Bochum. Orte der Inklusion – oder genau das Gegenteil? Werkstätten für Menschen mit Behinderung werden stark diskutiert. Eine in Bochum gibt Einblicke.
Upcycling-Taschen für den Ruhrpark, Puky-Laufräder für Kinder oder die Müllkammerboxen „mü“ – in der Werkstatt Constantin-Bewatt in Bochum-Riemke werden einige Produkte gefertigt, die über Bochum hinaus bekannt sind. Dahinter stecken 680 Beschäftigte mit geistiger, psychischer oder körperlicher Beeinträchtigung.
Ein Ort der Begegnung und Beschäftigung heißt es auf der einen Seite, ein Niedriglohnsektor, der Menschen abschottet und deren Arbeitskraft ausnutzt, kritisieren die Anderen. Die Werkstatt in Bochum-Riemke gibt der WAZ Einblicke in ihre Arbeit.
36 Wochenstunden für 126 Euro Grundlohn
36 Stunden arbeitet ein Großteil der Beschäftigten jede Woche – und das für einen Grundlohn von mindestens 126 Euro im Monat. Das Entgelt setzt sich dann zusätzlich aus einem Arbeitsförderungsgeld von 52 Euro, einem Leistungslohn, der nach individueller Arbeitsleistung berechnet wird, und weiteren Zulagen, zusammen. Weil es sich bei der Beschäftigung um eine sogenannte „arbeitnehmerähnliche Anstellungsform“ handelt, gilt für sie nicht der Mindestlohn. Zum Leben reicht das Entgelt nicht, weshalb die Beschäftigten zusätzlich auf staatliche Leistungen wie Wohngeld und Grundsicherung angewiesen sind.
„Wir wollen viel verändern“, sagt Kirsten Ruppelt. Als Mitglied des siebenköpfigen Werkstattrates vertritt die 43-Jährige die Interessen der Beschäftigten. Sie erzählt weiter: „Wir wollen vernünftiges Geld, um gut leben zu können.“
Doch über die Höhe des Entgelts entscheide nicht nur die Werkstatt, sagt deren Leiterin Birgit Westphal. „Wenn wir mehr Geld bezahlen, bedeutet es nicht, dass die Beschäftigten mehr Geld bekommen. Staatliche Leistungen werden dann wiederum abgezogen.“ Beim WAZ-Gespräch sind sich Rat und Leitung einig: Die Beschäftigten leisten eine wertvolle Arbeit, die gerecht entlohnt werden sollte. Bislang sei das nicht der Fall.
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Auch die Bürokratie erschwere den Alltag: Für die verschiedenen staatlichen Leistungen müssen separat Anträge gestellt werden, die Hürden zur Antragsstellung seien groß. „Wir machen uns nackig“, sagen Mitglieder Werkstattrats. Außerdem ist die Zusammensetzung des Entgelts kompliziert. Werkstattrat und -leitung fordern daher: Alle Leistungen über die Auszahlung der Werkstatt zu regeln, eine einheitliche Regelung für das Entgelt und dadurch „die Bürokratie vereinfachen“.
Bochumer Werkstatt gibt Tagesstruktur und soziale Kontakte
Trotz der Kritik am niedrigen Lohn betont Birgit Westphal: „Hier geht es um mehr als Arbeit.“ Die Werkstatt gebe eine Tagesstruktur und soziale Anbindungen. „Es ist eine Begegnungsstätte. Die Arbeit in der Werkstatt hat einen hohen Stellenwert.“ Auch Kirsten Ruppelt sagt: „Ich wäre schon lange weg, wenn es mir hier nicht gefallen würde.“ Sie treffe dort ihre Freunde und engagiere sich als Frauenbeauftragte und im Werkstattrat für die Interessen und Bedürfnisse der Beschäftigten.
Kirsten Ruppelt geht es auch um das Bild von Werkstätten in der Gesellschaft insgesamt. „Wir haben ein Handicap, aber sind trotzdem Menschen, die gehört und geschätzt werden wollen“, sagt sie. „Wir wollen Respekt für unsere Arbeit“, fügt Günter Grüning (59) hinzu, der bereits seit über 20 Jahren im Werkstattrat eine Stimme der Beschäftigten ist, und sagt weiter: „Viele sagen: ‚Die machen ja nichts.‘ Es wäre schön, wenn sie wissen, was wir hier alles anbieten.“
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Und das ist eine Menge: Von Schnittblumen, über Gloria-Sprühflaschen und Babydecken bis zu bekannten Produkten wie das erwähnte Puky-Rad oder die Müllkammerbox („mü“), von der bereits 3000 Stück verkauft wurden. Die Einnahmen von letzterem kommen den Beschäftigten zugute. Insgesamt gibt es acht Arbeitsbereiche in Produktion und Dienstleistung.
Für Firmen, die eine Werkstatt beauftragen, kann es sich lohnen: Sie werben mit sozialem Engagement und können Kosten sparen. Denn die Hälfte der Rechnung kann mit einer sogenannten Ausgleichsabgabe verrechnet werden. Dennoch seien nicht alle Firmen bereit, den notwendigen Betrag zu bezahlen. „Firmen feilschen teilweise um Centbeträge“, erzählt Jens Becker, der stellvertretende Werkstattleiter. Außerdem drücke die JVA den Preis, kalkuliere sie häufig unterhalb des marktüblichen Preises. Jens Becker wünscht sich daher: „Die Wirtschaft müsste verstehen, was wir hier tun und die Preise am Markt akzeptieren.“
Werkstatt in Trägerschaft der Diakonie Ruhr
Die Werkstatt Constantin-Bewatt ist in Trägerschaft der Diakonie Ruhr. Neben der Beschäftigung in der Werkstatt selbst ist ein Ziel auch die Vermittlung auf den sogenannten „ersten Arbeitsmarkt“. Im vergangenen Jahr wurden vom Standort in Riemke allein acht der rund 450 Beschäftigten vermittelt, unter anderem zum VfL Bochum, zu Möbel Hardeck oder in eine Ausbildung zum Beikoch. Das ist eine Quote von fast 1,8 Prozent – und damit über dem bundesweiten Schnitt von unter einem Prozent. Gründe für eine geringe Vermittlung sind vielseitig. Darunter: Fehlende barrierefreie Arbeitsplätze in Unternehmen und die Befürchtung der Beschäftigten, den erworbenen Rentenanspruch zu verlieren.