Bochum-Langendreer. Die steigenden Preise für Lebensmittel zwingen mehr Menschen, zur Tafel zu gehen. So reagieren Bedürftige in Bochum auf die Inflation.
Es gibt einige neue Gesichter – in dem uneinsehbaren Hinterhof in Bochum-Langendreer reihen sie sich hinter den Stammkunden in die Schlange ein: viele Rentner, Hartz-IV-Empfängerinnen, Geflüchtete aus der Ukraine und vor allem Alleinerziehende mit ihrem Nachwuchs. Es sind die steigenden Supermarkt-Preise, die 2022 die Tafel wohl gefragter denn je machen.
Tafel Bochum erreichen mehr Anfragen aufgrund hoher Lebensmittel-Preise
„Ich bin vor kurzem erst dazugekommen, weil Lebensmittel viel teuerer geworden sind – bei Obst und Gemüse ist das extrem“, berichtet Nina (35), die vor der Essens-Ausgabe wartet. Für sie spiele auch der Aspekt Nachhaltigkeit eine Rolle. „Das ist ein Problem, weil meine Kinder und ich absolute Gemüse-Junkies sind.“ Wenn sie alle paar Tage mal frisches Gemüse im Supermarkt nachkaufen wolle, gehe sie selten unter 40 Euro an der Kasse aus dem Laden wieder heraus: Das tue dem Portemonnaie weh.
Anfang des Jahres war die Alleinerziehende noch voll berufstätig, doch aufgrund der chronischen Krankheit ihres Sohnes muss sie diesen nun allein pflegen. Die bürokratischen Hürden, um in einer solchen Lebenslage vom Staat oder der Krankenkasse Unterstützung zu erhalten, seien sehr hoch. „Ich musste deswegen meinen Job kündigen“, sagt sie resigniert. Sie fühle sich gesellschaftlich allein gelassen.
Tafel-Kundin: „Weil mein großer Sohn gern viel isst“
Auf die Idee, sich bei der Tafel zu registrieren, hat sie ihre Freundin Katinka gebracht. Die Mutter von vier Kindern kommt bereits seit vielen Jahren immer donnerstags zur Tafel. „Weil mein großer Sohn gern viel isst“, sagt die 38-Jährige, die sich ebenfalls um ein pflegebedürftiges Kind kümmert.
Tafel wird immer größer
Die Tafel startete 2000 mit einer Lagerfläche von 600 Quadratmetern und alten Kühlschränken, die das Ehepaar Baasner vom Sperrmüll holte. „Seit 2003 haben wir in Wattenscheid ein Gelände von 6000 Quadratmetern und seit 2020 in Bochum eine Filiale mit 350 Quadratmetern“, berichtet Geschäftsführerin Larisa Baasner. Die Tafel betreibt an der Laubenstraße auch ein soziales Warenhaus für Bedürftige.
Lebensmittel würden an zwanzig Ausgabestellen verteilt. „Wir haben 12 Angestellte, die wir selbst bezahlen, 15 bis 17 Mitarbeitende über die Soziale Teilhabe sowie 30 2-Euro-Jobber und 50 bis 60 Ehrenamtliche.“
Die Tafel benötigt ehrenamtliche Hilfe, aber nicht sporadisch. „Unser Wunsch ist es, dass die Helfer mindestens drei Tage pro Woche arbeiten – und in Vollschicht von 8 bis 14 Uhr“, so Baasner.
„Uns erreichen viele Anrufe und Mails, von Menschen, die gern vorbeikommen würden“, berichtet Ewa Lorenz, die seit Jahren für die Tafel arbeitet, „Gestiegene Heiz-, Stromkosten und die teureren Lebensmittel – viele kommen mit dem Geld gar nicht mehr hin.“
Der Anfang Juni verkündete Aufnahmestopp neuer Abholer zwinge die Tafel-Personalleiterin, die Hilfesuchenden dann abweisen. „Ich sage ihnen: ,Sobald wir wieder die Kapazitäten haben, nehmen wir Sie auf!’“
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Viele Menschen schämten sich, zur Tafel zu gehen. Der Hinterhof des evangelischen Gemeindehauses an der Alten Bahnhofstraße eigne sich gut, da sich die Tafel-Kundschaft unbeobachtet aufstellen und das Haus wieder einzeln an der anderen Gebäudeseite verlassen könne.
„Ein Salat für 1,95 Euro – das ist Wahnsinn“
Zu den neuen Gesichtern zählt auch die 23-jährige Svenja. Seit kurzem wohnt sie mit ihrem Freund zusammen, der seine Kinder mit in die Beziehung gebracht hat. „Jetzt sind wir zu viert zu Hause, deswegen komme ich jetzt immer hierher“, sagt Svenja. „Weil ich so viel esse“, fügt ihre etwa 14-jährige Stieftochter hinzu.
+++ Alles wird teurer – was das für Bochum heißt, das lesen Sie hier +++
Rentner Thomas würde gern öfter zur Tafel kommen. „Alles ist teurer geworden. Ein Salat für 1,95 Euro – das ist Wahnsinn“, sagt der 70-Jährige. Aufgrund der steigenden Preise greife er beispielsweise zu weniger Fleisch als früher. Auch Sandra geht heute anders durch den Supermarkt. Die 40-jährige Hartz-IV-Empfängerin musste auch in der Vergangenheit immer wieder Lebensmittel zurücklegen, nach dem Blick auf den Preis. „Doch jetzt sind es mehr Sachen, die man wieder zurück ins Regal stellt.“
Ehrenamtliche bringen übrige Lebensmittel zu Rentnern
Für Rentnerin Karin (74) ist die Tafel seit Jahren ihre einzige Möglichkeit, um die Runden zu kommen, „seitdem ich 2015 arbeitslos wurde“. Sie kritisiert, früher hätte sie für den Besuch bei der Tafel nur einen Euro zahlen müssen, mittlerweile seien es 4 Euro.
„Karin, komm mal her“, winkt die Ehrenamtliche Birgit Bolz die Rentnerin herbei, „wir haben wir heute vegetarische Schnitzel, willst du die nicht mal probieren?“ Karin lehnt ab. „Dann musst du mehr Speck nehmen“, erwidert Bolz und füllt die Einkaufstüten der Rentnerin. Seit 20 Jahren teilt Bolz ehrenamtlich für die Tafel Lebensmittel aus.
Einige Rentnerinnen und Rentner empfänden große Scham, im Alter die Grundsicherung zu beantragen. Wenn nach ihrer Schicht an der Ausgabestelle doch Lebensmittel übrigbleiben, fahre sie die Reste daher bei diesen Menschen zu Hause vorbei.