Bochum-Langendreer. Multiple Sklerose bis Trauerbewältigung - Menschen, die zu Michelle Bartel kommen, haben unterschiedliche Probleme. Ihnen allen helfen Pferde.

Jenny (9) sitzt ganz ruhig auf dem Rücken von Tipp-Ex und hält die Zügel fest. Im lockeren Schritt läuft das braune Pferd über den sandigen Untergrund. Jenny lacht. "Sie hat eine Zitter-Wackel-Krankheit, aber nach dem Reiten ist sie den ganzen Tag viel ruhiger und kann sich besser konzentrieren", sagt ihre Mutter.

Hippotherapeutin Michelle Bartel kennt die positiven Effekte, die die Reittherapie für ihre Patienten bereithält: "Ein Mann mit Multipler Sklerose kam im Rollstuhl zu uns - nun kann er wieder laufen", berichtet die Physiotherapeutin, die eine Fortbildung zur Hippotherapeutin gemacht hat.

Reiten zur Trauerbewältigung

"Die dreidimensionalen Impulse des Pferdes können wir in der klassischen Physiotherapie nicht abbilden", sagt die 44-Jährige, während sie Jenny rückwärts auf das Pferd setzt. Sie beugt das Mädchen nach vorne und hilft ihr beim Abstützen. "Super, immer mit geöffneten Händen fallen", lobt Bartel. Auch Jennys Mutter hat den Fortschritt beobachtet: "Wenn sie fällt, kann sie sich inzwischen viel besser abstützen", sagt sie.

Pro Woche kommen etwa 50 Patienten an die Somborner Straße. Auf einem ehemaligen Feldhandballplatz ist Bartel dort mit 12 Therapiepferden im Jahr 2018 eingezogen. "Therapiepferd und Untergrund der Reitstrecke werden stets abhängig vom Patienten ausgewählt", erklärt die Hippotherapeutin, die selbst seit ihrem 12. Lebensjahr reitet. Neben Patienten mit Bewegungsstörung kämen auch Kinder zur Trauerbewältigung, Förderschulen und Kindergartenkinder.

Neue Anfragen durch Pandemie

"Seit der Pandemie haben auch solche Anfragen zugenommen, die sich um Kinder drehen, die durch die Corona-Situation Ängste oder Einsamkeit verspüren", berichtet Bartel. Im Nachmittagsbereich kann sie schon keine weiteren Plätze mehr anbieten.

Dabei helfen die 20 Minuten pro Einheit auf dem Pferd auch körperlich gesunden Kindern: "Sie schöpfen Kraft und Selbstvertrauen", ist sich Bartel sicher. Tipp-Ex bleibt stehen, Jenny hat Zeit mit ihm zu Kuscheln. Vorsichtig berührt sie das weiche Fell, schließt dabei die Augen. "Tipp-Ex!" ruft Jenny freudig.

2 G-Regel auf dem Hof

Auf dem Hof von Bartel gilt die 2-G-Regel: Nur geimpfte und genesene Personen haben Zutritt. "Weil wir teilweise mit schwerkranken Menschen zusammenarbeiten, fühlen wir uns damit am sichersten", erklärt die Therapeutin. Für ihre einjährige Zusatzausbildung ist Bartel quer durch Deutschland gefahren, musste viele Anerkennungspraktika machen. "Berufserfahrung ist entscheidend", ist sie sich sicher.

Im Umkreis gäbe es erst in Lünen und Essen weitere Hippotherapeuten. "Komischerweise kommen unsere Patienten aber zum größten Teil aus Castrop-Rauxel und Dortmund - aus Bochum ist erst einer dabei", wundert sich die 44-Jährige, die ihre Pferde selbst ausbildet.

Krankenkassen zahlen nicht

Manche ihrer Pferde waren eigentlich schon in Rente oder wurden vor dem Schlachthof gerettet. Ab einem Alter von vier Jahren kann man die Hippotherapie in Anspruch nehmen, im hohen Alter gibt es keine Grenze.

Von den Krankenkassen wird die Hippotherapie nicht übernommen. "Keine Chance", weiß auch die Mutter von Jenny. 42,50 Euro pro Reiteinheit muss sie deshalb selbst zahlen. "Ein ärztliches Rezept braucht man für die Hippotherapie aber trotzdem", sagt Bartel.

Reiten einmal pro Woche

Patienten kommen meist ein ganzes Jahr lang, stets einmal pro Woche, auf ihren Hof. "So kann man alle Jahreszeiten einmal miterleben", erläutert Bartel. Tipp-Ex hat inzwischen wieder angehalten. "Die Stunde ist um, soll Tipp-Ex dich noch zum Auto bringen?", fragt die Reittherapeutin die kleine Jenny. Das Mädchen nickt. Gemeinsam reiten Jenny und Tipp-Ex über den Parkplatz.

Mit einem Lachen im Gesicht rutscht das Mädchen von dem Pferderücken. In diesen Momenten weiß Bartel, warum sie Hippotherapeutin geworden ist: "Wir spüren Riesenerfolge und unsere Patienten können hier dem Alltagsstress entfliehen", sagt sie. Man lerne zwar nicht das klassische Reiten - dafür aber umso mehr auf anderen Ebenen.

Marke seit 2018

Die Hippotherapie ist eine physiktherapeutische Behandlungsmaßnahme auf neurophysiologischer Grundlage. Sie fördert ganzheitlich auf körperlicher, geistiger, emotionaler und sozialer Ebene.

Seit 2018 ist das Behandlungsverfahren der Hippotherapie gemäß den Durchführungsbestimmungen des Deutschen Kuratoriums für Therapeutisches Reiten e.V. eine eingetragene Marke.