Porto Alegre / Santo André. André Schürrle ist der Mann für den Unterschied: Beim 2:1-Erfolg im WM-Achtelfinale gegen Algerien kam der deutsche Top-Joker wieder einmal von der Bank - und traf mit einem sehenswerten Hackentor zum erlösenden 1:0. Im Viertelfinale dürfte er in der Startelf stehen.
Direkt nach einem erfolgreichen Fußballspiel gibt es im Normalfall einen mehr oder weniger regulierten Ablaufplan für die Gladiatoren. Zunächst ein kurzer Moment der Freude (A), dann das zufriedene Abklatschen mit den Nebenmännern (B) und schließlich der obligatorische Gruß in die Fankurve (C). Wer Pech hat muss nach A, B und C und dem darauffolgenden Trikottausch (D) auch noch zur Dopingprobe (E) oder zum TV-Interview (F), was sich unter Fußballern in etwa gleich großer Beliebtheit erfreut. Und wer Glück hat, der darf direkt in die Kabine (G).
DFB-Manager Oliver Bierhoff lobhudelte nach dem 2:1-Sieg
Von A bis G brauchte die deutsche Nationalmannschaft am Montag nach dem glücklichen 2:1-Sieg nach Verlängerung gegen Algerien ziemlich genau drei Minuten. So lange dauerte es, bis fast auch der letzte Deutsche den Ort des Geschehens verlassen hatte. Nur einer konnte oder wollte partout nicht runter vom Rasen des Estádio Beira-Rios: André Schürrle klatschte, André Schürrle strahlte und André Schürrle ließ sich umarmen. „So einen Hackentreffer kann man nicht trainieren“, sagte der Torschütze des so wichtigen 1:0-Treffers, als alle anderen Kollegen schon lange in den Katakomben von Porto Alegres Stadion verschwunden waren. „Da war Glück dabei, ganz klar“, gab er zu, sagte dann aber genauso überzeugend: „Ich wollte ihn aber auch mit der Hacke treffen.“
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Viel gab es am Montag nicht zu beklatschen, zu strahlen oder zu umarmen. Doch genau wie Manuel Neuer (siehe Seite XX) stach zumindest auch André Schürrle auf dem Rasen heraus – und das, obwohl er zu Beginn der Partie auf selbigen gar nicht gestanden hatte. „André hat toll gespielt. Er ist jemand, der schnell ins Spiel kommt“, lobhudelte also DFB-Manager Oliver Bierhoff, Chefdiplomat Philipp Lahm war „froh, dass wir die Möglichkeit haben, so einen Mann von der Bank zu bringen“ und Per Mertesacker betonte die Wichtigkeit, einen Spieler zu haben, „der immer dann sein Potential abruft, wenn wir ihn brauchen.“
Und Fußball-Deutschland brauchte Schürrle am Montag. Und, daran gibt es nach der Fast-Blamage gegen die Wüstenfüchse aus Algerien kaum noch Zweifel, Fußball-Deutschland wird Schürrle am Freitag gegen Frankreich brauchen. Vor allem aber Löw braucht Schürrle.
Der Bundestrainer ist ein Genießer. Er mag gut sitzende Hemden und frischen Espresso. Die Frisur ist ihm so wichtig wie ein gutes Glas Rotwein. Und er mag einen flexiblen Offensivfußball mit ständig rotierenden Angreifern, die sich eben nicht in ein in Löws Gedankenwelt nicht mehr vorhandenes Positionsschema pressen lassen. Nur gesehen hat Löw das bei dieser WM in seiner Mannschaft bislang kaum – bis er nach dem unerträglichen ersten Durchgang gegen Algerien nach der Pause auf den Faktor Schürrle setzte.
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„André gibt dem Spiel Tiefe“, erklärte Bierhoff später. „Wir haben das gebraucht, weil wir gerade in der ersten Halbzeit sehr langsam gespielt haben und zu wenig Bewegung hatten.“ Bierhoff hätte auch sagen können, weil Schürrle-Vorgänger Mario Götze sehr langsam gespielt und sich zu wenig bewegt hat. Sagte er aber nicht.
Nach vier WM-Spielen – einem herausragenden (Portugal), zwei erträglichen (Ghana und USA) und einem sehr mangelhaften (Algerien) – ist spätestens im WM-Achtelfinale deutlich geworden, dass wohl nur Schürrle die Lücke ansatzweise schließen kann, die Marco Reus am Tag vor der Abreise nach Brasilien aufgerissen hatte. Vor seiner schweren Sprunggelenksverletzung war der Dortmunder Überflieger Löws Schlüsselspieler. Er ist schnell, beweglich, kreativ und torgefährlich. Er ist alles das, was seine Vertreter Götze und Lukas Podolski bislang nicht waren. Und er ist das, was Schürrle sein will, möglicherweise sein kann und von nun an auch sein soll.
Acht Tore in 30 Pflichtspielen für den FC Chelsea
Genau drei Tage nach Reus’ unglücklichem Zweikampf mit Georgiens Artak Jedigarjan am 6. Juni in Mainz saß Schürrle 8718 Kilometer entfernt auf dem Pressepodest im weißen Medienzelt vom Costa Brasilis Hotel. Der Chelsea-Profi wirkte zuversichtlich und bescheiden zugleich. „Es geht hier ums große Ganze“, sagte der 23 Jahre alte Fußballer im besten Schürrle-Sprech. „Nur das ist wichtig. Ich werde auch mein bestes geben, wenn ich von der Bank komme.“
Dass er zunächst tatsächlich nur von der Bank kommen würde, hatte zu diesem Zeitpunkt kaum einer gedacht.
Der gebürtige Pfälzer aus Ludwigshafen hatte eine beachtliche Premierensaison in der Premier League hinter sich gebracht. Schürrle brachte es in seiner ersten Saison beim FC Chelsea auf 30 Pflichtspiele. Er erzielte acht Tore. Und er erhielt eines dieser ganz seltenen und ganz vorsichtigen Komplimente von Chefcoach José Mourinho. „André ist noch im Lernprozess in England“, sagte der Portugiese, der den Neuzugang aus Leverkusen zu Beginn der Saison noch „Kind“ genannt hatte, „aber er bleibt cool. Er ist gut im Abschluss und das erwarte ich von ihm.“
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Bundestrainer Löw hatte noch ein halbes Jahr zuvor gesagt, dass der André an seiner Robustheit arbeiten müsse. Doch das Kind scheint in nur einem Jahr in England erwachsen geworden zu sein. Schürrle machte Krafttraining, arbeitete nicht nur an seinem Torabschluss, sondern auch an seiner Druckmuskulatur in der Brust. Er habe das Gefühl, sagte Löw nun kürzlich, dass der André in England, in dieser körperlich sehr robusten und intensiven Liga, zugelegt habe.
Das soll Schürrle nun auch bei dieser Weltmeisterschaft zeigen. In den Spielen, in denen es drauf ankommt. Im Viertelfinale im Maracanã. Möglicherweise im Halbfinale und hoffentlich dann auch noch im Finale. Schürrle soll dabei sein. Als möglicher Matchwinner. Und als Schlüsselspieler.
André Schürrle soll dem deutschen Spiel eine eigene Note geben
„André weiß selbst, wie gut er ist“, beantwortete der am Montag eher übellaunige Mertesacker die Frage nach seiner Einschätzung zu Schürrles Leistung. „Er zeigt, dass er jederzeit von Anfang an spielen kann“, sagte Mertesacker. Schürrle soll dem deutschen Spiel eine eigene Note geben, er soll frischen Wind in die zuletzt statische Offensive bringen. Und er soll ganz einfach den Unterschied machen. Nicht von der Bank aus. Sondern direkt auf dem Rasen. Und zwar von A bis Z.
DFB-Team erreicht Viertelfinale