Gelsenkirchen. Der FC Schalke 04 ist wieder vorzeigbar. Neue Führungskräfte schafften nach dem Abstieg Großes: Sie gaben den Fans den Stolz zurück. Eine Analyse
Michael ist ein Zugezogener. Der Endfünfziger kommt aus dem Südwesten, vor ein paar Jahren verschlug es ihn beruflich ins Ruhrgebiet. Fußballinteressiert war er immer, Fan eher nicht. Anfangs hatte er sich neugierig umgesehen in seiner neuen Heimat, ein Weg führte ihn auch in die Arena auf Schalke. Er wusste längst, dass der Fußball vielen Menschen im Revier am Herzen liegt. Hier aber, vor Ort, spürte er, was das genau bedeutete. Aus zunehmender Sympathie wurde Faszination. Inzwischen besitzt er zwei Dauerkarten.
Schalke erlebte 2020/21 eine Chaos-Saison
Michael sah Schalke noch in der Champions League spielen, und er hat den Untergang miterlebt. Natürlich freut er sich jetzt über den Wiederaufstieg in die Bundesliga. Aber den ordnet er nicht als Reparatur eines Betriebsunfalls ein. Sondern er entdeckt darin Größeres. „Schalke 04 hat sich selbst gereinigt“, sagt er voller Respekt. „Der Verein hat wie kein anderer durch den Ausbruch der Pandemie gelitten und sich in höchster Not unter Zwang wieder auf seine Werte besonnen, auf alles, was diesen Klub ausmacht.“ Klar, was er meint. Arbeitseifer. Leidenschaft. Zusammenhalt. All das war auf der Strecke geblieben in der Chaos-Saison 2020/21.
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Rasanter Erfolg der Schalker Runderneuerung war nicht zu erwarten
Ein Jahr nach dem deprimierenden Abstieg ist Schalke 04 wieder vorzeigbar. Dass die radikale Runderneuerung in dieser Geschwindigkeit erfolgreich sein würde, damit durfte niemand rechnen. Umso mehr taumeln die Fans nun vor Glück. Und sie wissen es sehr zu schätzen, wie bedächtig, wie umsichtig, wie demütig eine ganze Riege neuer Verantwortlicher den Neuaufbau anging. Vor einem Jahr hatte sich die Anhängerschaft schämen müssen. Heute darf sie wieder stolz sein auf ihren Verein. Das allein ist schon von unschätzbarem Wert, die Sozialen Medien laufen über vor Komplimenten. Eines davon, in verschiedenen Varianten zu lesen, lautet: „Wir sind wieder ein Schalke, das man ernst nehmen kann.“
Ein Blick auf das düstere Drama der jüngeren Vergangenheit lässt das Gesamtwerk der neuen Klubführung in angemessen hellem Licht erscheinen. Das alte Schalke hatte sich finanziell übernommen, litt an Selbstüberschätzung. Alle wussten: Das Aufgebot war viel zu teuer ohne Europapokalspiele, musste möglichst oft die Champions League erreichen. Es war ja jahrelang irgendwie gutgegangen, das Motto hieß deshalb: Erst schließen wir die Augen, dann sehen wir weiter. Doch als der Plan zweimal nacheinander nicht aufgegangen war, als 2020 Corona kam und der Fußball eine Zwangspause einlegte, wurde das Ausmaß der Misswirtschaft deutlich: Mehr als 200 Millionen Euro Schulden lösten berechtigte Existenzängste aus. Schalke war zwingend auf Geisterspiele angewiesen, um liquide zu bleiben.
Wechsel in der Schalker Führungsspitze brachten entscheidende Veränderungen
Und es knallte auf höchster Ebene: Peter Peters, der langjährige Finanzchef, legte sein Amt nieder, bevor er vom Hof gejagt worden wäre – das Verhältnis zum mächtigen Aufsichtsrats-Vorsitzenden Clemens Tönnies war zerrüttet. Wenig später zog auch der große Boss die Reißleine: Nach einem massiven Corona-Ausbruch in seinem Fleischwerk in Rheda-Wiedenbrück kämpfte er schwer angeschlagen um sein Lebenswerk und seinen Ruf. Für eine zweite Großbaustelle hatte er keine Zeit und keine Kraft mehr. Zumal sich auch auf Schalke nicht wenige von ihm abgewendet und ihn bereits zum Rücktritt aufgefordert hatten.
Sportlich ging es nur noch bergab. Auch Sportvorstand Jochen Schneider überstand die Saison nicht, in der sich fünf Trainer vergeblich an der Rettung einer blutleeren Mannschaft versuchten. Als der Abstieg feststand, wurden Spieler von durchgeknallten Fans um die Arena gejagt. Der Tiefpunkt.
Für das neue Schalker Aufgebot wurden perfekt passende Spieler geholt
Längst aber hatten neue Verantwortliche damit begonnen, die Zukunft in die Hand zu nehmen. Der neue Sportvorstand Peter Knäbel holte sich den Tag-und-Nacht-Arbeiter Rouven Schröder als Sportdirektor an seine Seite, die beiden drehten das komplette Aufgebot einmal auf links. Und bewiesen dabei famose fachliche Qualitäten: Denn viele der neuen Spieler schlugen voll ein und passten auch als Typen perfekt zu Schalke.
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Die Zeit der Hochrisikotransfers aber war vorbei, Finanzchefin Christina Rühl-Hamers hielt den Daumen drauf. Ein Drei-Jahres-Konzept für den Wiederaufstieg wurde ausgearbeitet, mit verschiedenen Szenarien, mit Plan A bis C.
Zu Beginn dieses Jahres kam ein neuer Vorstands-Vorsitzender hinzu. Bernd Schröder war auf Anhieb als Krisenmanager gefragt. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine zwang Schalke dazu, den nächsten großen Ballast abzuwerfen. Im Eiltempo vollzog Bernd Schröder in Abstimmung mit dem Aufsichtsrat nach 15 Jahren die Trennung von Hauptsponsor Gazprom. Der Nachfolger Vivawest kommt aus dem Ruhrgebiet – auch dies: bedeutend für das neue Image.
Ein Chef im Hintergrund: Das kannte Schalke früher nicht
Der neue Aufsichtsrats-Chef heißt übrigens Axel Hefer. Man sieht ihn nicht, man hört nichts von ihm. Er lenkt den Klub aus dem Hintergrund, drängt nicht in die Medien. Bisher keine schlechte Strategie.
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Der bedeutendste Schachzug für den grandiosen Saison-Endspurt gelang jedoch der sportlichen Leitung – mit dem Trainerwechsel. Dimitrios Grammozis hatte es zwar geschafft, das neue Aufgebot zu einer Einheit zu formen, der Aufstieg aber war unwahrscheinlich geworden. Erst der wuchtige Ur-Schalker Mike Büskens setzte im Team entscheidende Kräfte frei.
Auf eigenen Wunsch tritt Büskens nun wieder ins zweite Glied zurück. Auch sein Nachfolger wird versuchen müssen, Spieler, Verein und Anhängerschaft zu begeistern, das Wir bleibt wichtig. Vor allem, weil man die Gefahr ahnt, dass die Bundesliga noch zu groß für das sportlich und wirtschaftlich kleiner gewordene Schalke sein könnte. Dass die mit eng begrenztem Etat zusammengestellte Mannschaft wieder in Abstiegsgefahr geraten und neue Unruhe aufkommen könnte.
Gefahr nach dem Aufstieg: Ist Schalke schon stark genug für die Bundesliga?
Solche Gedanken sind gesunder Realismus. Pessimismus aber ist auf Schalke nicht angebracht. Der langjährige Fan Otto, bei Twitter als „Fensterrentner“ bekannt, beschreibt das neue Schalke-Empfinden so: „Dank Schröder und Knäbel habe ich zum ersten Mal seit langer Zeit das Gefühl, dass du dich als Schalker zurücklehnen und denken kannst: Die Verantwortlichen wissen, was sie tun. Ich vertraue denen, es wird schon alles seine Richtigkeit haben. Ich guck mir das in Ruhe an.“
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