Bork/Gelsenkirchen. Matthias, Julia, Lotta, Lene und Edda verlieren zu Ostern ihren Jüngsten. Das Baby stirbt an einer Herzmuskelentzündung. Der Vater überlebt knapp.
In Pauls Leben war nur einmal Weihnachten. Zu Ostern stirbt der kleine Junge, kurz vor seinem ersten Geburtstag. An derselben Krankheit, gegen die auch sein Papa gleichzeitig kämpft: Matthias Holz, 41, aus Bork, Vater von vier Kindern, liegt nach zwei Herzstillständen im künstlichen Koma, vermutlich eine Folge der Ringelröteln. Er gewinnt den Kampf um sein Leben, aber er kämpft immer noch. Auch, weil sein Sohn es nicht geschafft hat.
Sie hatten schon im Herbst 2023 mehrere Krankheitswellen mitgemacht, Magen-Darm, Streptokokken, Scharlach, „was willste dir aussuchen?“, fragt Matthias Holz lakonisch. Wie das so ist in einem sechsköpfigen Haushalt, mit Lotta, dem achtjährigen Grundschulkind, den Zwillingen Lene und Edda im Kindergarten (heute 6) und einem Baby. Er selbst nahm fast alles mit, der kleine Paul, gerade ein paar Monate alt, lag mit dem RS-Virus sogar im Krankenhaus.
Nach RS-Virus, Streptokokken und Scharlach nun auch noch die Ringelröteln
Nur zwei Monate später grassiert erneut so allerlei im Hause Holz; eine Krankheit ist dabei neu: die Ringelröteln. Zuerst geht es vor allem Papa Matthias nicht gut, das Virus wirft den kräftigen Mann, gewohnt, im Garten selbst Holz zu machen, binnen kürzester Zeit nieder. Anfang März kommt er ins Krankenhaus, als Notfall: Er hat hohes Fieber, das Blutdruckgerät zeigt „Error“ an. „Alles wird gut“, sagen die Ärzte seiner Frau Julia, ihr Mann sei „in guten Händen“. Eine Nacht zur Beobachtung, mehr nicht. Julia geht nach Hause, sie muss sich um die Kinder kümmern..
Am nächsten Morgen klingelt die Polizei Sturm. „Es geht um Ihren Mann.“ Lebensbedrohlich, hört sie, später, dass die Herzleistung nur noch bei vier Prozent liegt. Und dann, wochenlang, immer wieder diesen einen Satz: „Es sieht nicht gut aus.“ Matthias sagt, „die Herz-Lungen-Maschine hat ihr Bestes getan“, das gilt für all‘ die anderen Geräte auch; die Mediziner haben so ziemlich alle Organe durch Maschinen ersetzt. Damit sie sich erholen konnten, sagt Julia, 40: „Aber keiner wusste, ob sich irgendetwas erholt.“ Und was würde mit seinem Gehirn sein?
Für den Patienten selbst ist jene Zeit „wie eine Reise mit vielen Abzweigungen“. Er träumt, kann sich an vieles erinnern, was er gar nicht wahrgenommen haben kann. Später wird er Pfleger erkennen, die er noch nie sah, und wissen, dass Julia an seinem Bett gesessen hat. „Hast du im Koma geweint?“ fragt Lotta, als der Vater davon erzählt. „Ja“, sagt Matthias, er weint auch jetzt wieder. In seinen Alpträumen war er in Stacheldraht gewickelt. Und habe er Entscheidungen treffen müssen „auf Leben und Tod“.
Körpertemperatur auf 33 Grad heruntergekühlt
Zu Hause feiern die Zwillinge ihren sechsten Geburtstag, Julia pendelt zwischen dem Uniklinikum Essen und den Schwiegereltern, die Kinder sind viel bei ihnen. Die Ärzte kühlen Matthias‘ Körper auf 33 Grad herunter, derweil steigt bei seinem kleinen Quartett die Temperatur. Wieder Fieber, wieder schlimme Erkältungen, und dann: Ringelröteln, die Mädchen jetzt auch, Julia selbst und der kleine Paul. Ausschlag an den Armen haben sie und rote Bäckchen vom Fieber, Paul hat zudem schon wieder Streptokokken. Am 19. März bringt die Mutter ihren Jüngsten zum Kinderarzt, am 20. wieder, „ich hätte ins Krankenhaus fahren sollen“, sagt sie sich heute. Es fließen viele Tränen in diesem Gespräch, Julia macht sich Vorwürfe. Aber damals im Frühling zwingt sie sich, nicht hysterisch zu werden in all‘ dem Elend, schließlich sieht auch die Ärztin keinen Anlass zur Sorge.
Es ist ein schrecklicher Irrtum. Paul, das erfahren sie erst nach seinem Tod, hat eine Herzmuskelentzündung wie sein Vater. Sein kleines Herz wird es nicht schaffen.
Inzwischen ist die Kerze, die die Kinder für Pauls Beerdigung selbst gestaltet haben, schon bis in den Regenbogen abgebrannt. In eine bunte Kiste, ein Geschenk von Freunden der Familie, packen sie Erinnerungsstücke: hölzerne Sterne, von Edda und Lene gebastelt, den Schnuller, den sie neulich noch fanden. Und das Bild, das Lotta gemalt hat: Papa, Mama und drei Töchter, dazu das Gesicht von Paul in einer Wolke. Er hat die gleichen blauen Augen wie Papa.
Am Ostersonntag sucht Paul noch Eier mit seinen Schwestern
Laufstall und Kinderwagen haben sie weggeräumt, „Paul kommt ja nicht zurück“. Aber die Babybücher stehen noch im Wohnzimmer. In der Ecke liegt Spielzeug, eine originalverpackte Holzeisenbahn, größer als das Kind. Auf dem Sofa sitzt das Lamm aus Plüsch, das Paul zur Geburt bekam. Sein letztes Foto haben sie noch nicht eingerahmt, es liegt in Lottas Zimmer. Gemacht am Ostersonntag, Eiersuchen bei Oma: drei freudige Mädchen, der kleine Bruder auf Lottas Arm. Man sieht ihm die Krankheit doch nicht an? Er ist doch auf dem Weg der Besserung, er hatte Spaß, er aß gut an jenem Tag... Am nächsten ist er tot.
Er ist etwas quengelig am Morgen. „Ich lieb‘ dich“, sagt Julia zu ihm, bevor sie noch einmal zurückfährt, um Brötchen zu holen. Sie will später ins Krankenhaus, Ostermontag, und in Essen wollen sie ihren Mann aufwecken. Doch dann das Telefon, sie eilt zurück, ihr Sohn schreit, bekommt blaue Lippen, Kindernotarzt, Kinderklinik, sie sieht fremde Leute verzweifelt versuchen, das Kleinkind wiederzubeleben. „Matthias“, denkt sie, „haben sie doch auch wiedergeholt!“ Paul nicht, er stirbt in ihren Armen.
An der Wand des Krankenzimmers das Familienfoto
Wie sollen sie das Matthias sagen, und wann? Sie reden an seinem Bett nur über „die Kinder“. Aber es geht ihm ja besser mit der Zeit, sogar das Problem mit der Blutgerinnung bekommen die Mediziner in den Griff. „Erzählst du auch“, fragt Lotta, die mit Kugelschreiber „Paul“ auf ihren Arm gekritzelt hat, „wie sie dir den Zeh wegoperiert haben?“ Ein Stück seines rechten Zeigefingers ist immer noch schwarz. Matthias erinnert sich, wie das Zimmer um ihn immer größer wird, die Schläuche und Maschinen kommen nach und nach weg, an der Wand gegenüber sieht er Fotos seiner Familie. Fünf Menschen, die ihm wichtig sind.
Dass einer fehlt, sagt Julia ihm, da sind sie alle dabei, auch die Eltern und ein Seelsorger. Sie bleibt danach noch lange bei ihm, sie schweigen. Bisher ist Julia allein gewesen mit ihrer Trauer, hat die Mädchen getröstet in ihrer neuen Angst vor dem Tod. Matthias sagt: „Ich konnte mich gar nicht verabschieden.“ Sie beschließen, die Beerdigung zu verschieben, Julia entscheidet: „Wir machen das erst, wenn du neben mir stehen kannst.“ Es wird Anfang September, als Matthias die selbst gestaltete Urne zum Grab trägt. „Das tat mir gut.“
Bis zur Rückkehr an den Arbeitsplatz dauert es noch Monate
117 Tage war Matthias Holz nicht bei seiner Familie. Er muss danach wieder laufen lernen, ist nie ohne Schmerzen. Zwei Kilometer am Stück kann er inzwischen gehen, sein Kurzzeitgedächtnis hat Lücken. Er braucht lange „Atempausen, um mein Leben zu renovieren“, kann nicht verstehen, wie jemand sich aufregen kann über Kleinigkeiten. Bis der Kommunikationstrainer wieder zurückkehren kann an seinen Arbeitsplatz, wird es noch viele Monate dauern.
Gerade hat er Holz nachgelegt, reicht Lene und Edda selbstgebackene Plätzchen: Sie sind mit Sonnen verziert, Smileys – und Tränen. Mehrere Bleche voll Tränen aus Teig. „Es tut gut, dass man sie einfach aufessen kann.“ Abends zum Schlafengehen singt Matthias Holz für seine Kinder. Jedes hat sein eigenes Lied, „LaLeLu“ gehört allen, für Paul hatte er sein Lieblingslied ausgesucht: „Schlaf, mein kleines Mäuschen“. Er singt es wieder, aber das Weihnachtslied, das im Advent dazugehörte, bringt er nicht über die Lippen. „Leise rieselt der Schnee“ – „Sorge des Lebens verhallt?“ Julia sagt: „Wir hatten ja nur ein Weihnachten mit Paul. Und diesmal ist es wieder ohne ihn.“
>>INFO: LAVIA E.V., DIE FAMILIENTRAUERBEGLEITUNG IN GELSENKIRCHEN
Die Familie Holz ist nicht allein. Freunde organisierten Spendenaktionen, das halbe Dorf half, die Familie ist bei ihnen. Und sie gehen zu Lavia, der Familientrauerbegleitung in Gelsenkirchen. Sie erzählen ihre Geschichte, weil sie sehr dankbar sind für die Unterstützung. Und weil sie denken, dass viele Menschen nicht wissen, dass es dort Trauergruppen gibt, Räume, um Gefühle herauszulassen: für die Eltern, für die Kinder. „Man merkt, dass man nicht alleine ist“, sagt Julia Holz, „und wie gut es tut, mit Leidensgenossen darüber zu sprechen.“ Sie wollen weitersagen: „Man kann das in Anspruch nehmen, man muss da nicht allein durch.“
Lavia Familientrauerbegleitung, Tel. 0174 8074305, Mail: GutesTun@Lavia.de. Der Besuch der verschiedenen Trauergruppen ist kostenlos, Lavia ist aber auf Spenden angewiesen. Konto: DE74360602951001339016