Ruhrgebiet. . Nach dem Germanwings-Absturz im März versuchen Jugendliche aus Haltern, in einer Trauergruppe den Tod von Geschwistern und Freunden zu verarbeiten.
Was ist schlimmer: Wenn jemand langsam stirbt und man sieht ihn leiden? Oder wenn jemand plötzlich tot ist, und keiner konnte sich verabschieden? René mag die Frage nicht, niemand mag sie in der Trauergruppe, und doch stellen die Jugendlichen sie selbst, immer wieder: „Es kommt“, sagt der 17-jährige René schließlich, „ja immer auf das Gleiche raus.“
Ein lieber Mensch ist gestorben. Bei René die Mama, bei Carla (16) die Schwester, bei Julius (17) und Leonie (15) der kleine Bruder, bei Linda (20) der Vater, neulich erst. „Man hatte Zeit, sich damit zu befassen“, sagt sie, „aber man weiß nie, wie es ist, wenn er wirklich tot ist.“ Janik (19) hatte keine Zeit: Seine Schwester und seine Kusine starben beim Absturz der Germanwings-Maschine. Sie waren Schülerinnen des Joseph-König-Gymnasiums in Haltern, das seit dem 24. März um 18 Menschen trauert.
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René aus Bochum, Carla aus Bottrop, Julius und Leonie aus Mülheim, Linda aus Gelsenkirchen, auch Anna und Helena sind seither Janiks „Verbündete“, „Leidensgenossen“, sagt er auch. In der gemeinsamen Trauergruppe kann er „frei reden, das sind Leute, die’s verstehen“. Keiner hat ja gelernt, mit dem Tod umzugehen, eins aber hat Janik gewusst: „Du kannst nicht tatenlos in der Stille zuhause sitzen, da wirst du gelähmt.“
„Trauer ist anstrengend“, sagt René
Zu seinem Glück war „Lavia“ da, das Institut für Familientrauerbegleitung aus Gelsenkirchen, gleich am ersten Tag. Da stand Mechthild Schroeter-Rupieper, die sich seit Jahren mit Trauer von Kindern und Jugendlichen beschäftigt, auf dem Schulhof in Haltern, ging in die Klassen – und gründete drei Trauergruppen im Ort. Zu denen sie auch andere Jugendliche einlud, auf dass sie sich gegenseitig helfen: „Man muss“, weiß René, „Trauer trainieren. Das ist anstrengend, aber du musst dich überwinden.“
An diesem Abend sitzen sie wieder zusammen, es gibt Pizza, es gibt Gelächter, und jeder beschreibt, wie der Mensch war, um den sie weinen. Es liegen Wie-Wörter auf dem Tisch, „gib mal das ,neugierig’!“, ruft Janik, „das liegt neben dem ,fröhlich’.“ Das Neugierige, sagt der 19-Jährige, „gibt es nicht mehr bei uns im Haus“. Auch niemanden, der abends in jedes Zimmer ein „Gute Nacht!“ ruft, keinen, der mit seiner Fürsorge manchmal nervt, und überhaupt kein Mädchen mehr: „Wir sind“, seufzt Janik, „nur noch Jungs.“
Ob man das sagen darf, dass die Schwester auch mal nervig war? „Nur weil er tot ist, ist er doch jetzt nicht heilig“, sagt Julius über seinen kleinen Bruder. Und man müsse auch nicht täglich zum Friedhof. Janik geht nicht gern, es liegen in Haltern die Gräber anderer Schüler in der Nähe, immer sind Leute da. „Ich möchte lieber für mich sein“, sagt der Wirtschaftsstudent leise. Darfst du, sagen die anderen. Der Schwester, glauben sie, „wäre das egal“. Ja, sagt Janik dankbar, „Hauptsache, ich denke an sie“.
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Sie sind reifer geworden, seit sie trauern, „erwachsener“, sagen sie selbst. Entspannter auch, sagt Carla: „Ich reg mich nicht mehr über Kleinigkeiten auf. Über Stau.“ Dafür hat sie andere Ängste: Abends im Bett fragt sie sich oft, „wem hast du nicht gute Nacht gesagt“? Janik geht jetzt häufiger zu seiner Oma: „Ich bin dankbar für jedes Essen von ihr, selbst wenn es Graupensuppe ist.“ Das ist so ein Moment, in dem sie laut lachen müssen.
Dann wieder geht es ganz ernsthaft um dieses Gefühl: „Du willst nach Hause, aber auch wieder nicht, weil die Traurigkeit dir schon entgegenkommt.“ Sie kennen das alle. „Es geht vorbei“, sagt Carla. Janik kommt die Trauer vor „wie eine Krankheit, die einen plötzlich befällt“. Die Therapie? „Sprechen hilft. Das hätte ich ohne die Gruppe sicher nicht getan.“ Anna geht genau deshalb gern nach Haltern. „Weil die Trauer dort noch lebendig ist.“ Niemand, der sagt, nun sei es aber mal gut mit den Tränen.
Stattdessen überall Menschen, die verstehen: „Die Halterner müssen nicht erklären, warum sie traurig sind. Die können auf der Straße weinen.“ Ist Trauer anderswo also – einsamer? „Wenn sowas passiert“, denkt René, „geht die ganze Welt ab. Aber niemand denkt daran, wie viele Menschen jeden Tag sterben, wie viele Kinder darunter leiden.“
Halterner dürfen überall weinen
Janik sollte neulich seinen Wunschzettel schreiben. Aber „was ich mir wünsche, kann ich nicht kriegen: dass das alles nicht passiert wäre“. Und was soll er den Eltern schenken, „die wollen nur ihr Kind zurück“. Heiligabend ist auch wieder „Monatstag“, genau neun Monate ist der Flugzeugabsturz dann her. Carla aber, die ihre Schwester verlor, sagt: „Alle denken, mir geht’s nur am Jahrestag schlecht. Dabei hab’ ich das ganze Jahr so Tage.“ Im nächsten sicher auch; wie soll man da eigentlich „Frohes Neues“ wünschen?
Als der Terror nach Frankreich kam, saß Janik gebannt vor dem Fernseher. „Ich fühle mit, wenn sowas passiert.“ Er sagt, er habe „das Leben schätzen gelernt“, auch wenn er nun einen Extra-Rucksack durch dieses Leben trägt. Dass aber die anderen ihm helfen zu tragen.