Essen. Avantgardekünstlerin Laurie Anderson feiert mit ihrem neuen Album die Flugpionierin Amelia Earhart. Ein Interview,

Sie ist eine der großen Avantgardekünstlerinnen unserer Zeit, ist in so gut wie jedem kreativen Metier zu Hause, gilt als eine Vorreiterin des Feminismus und wirkt auch mit 77 voller Tatendrang. Nun hat Laurie Anderson, die bis zu dessen Tod 2013 mehr als 20 Jahre lang mit Lou Reed zusammen war und 1982 mit ihrem Debütalbum „Big Science“ und der alternativ-minimalistischen Hitsingle „O Superman“ berühmt wurde, ein neues Album aufgenommen. Zusammen mit der Filharmonie Brno, Dennis Russell Davies und Mitstreitern wie Anohni und Marc Ribot hat Anderson auf „Amelia“ die letzte Reise der US-amerikanischen Flugpionierin Amelia Earhart vor 87 Jahren nachgezeichnet.

Laurie, wir treffen Sie in den Berliner Hansa Studios. Warum haben Sie sich diesen Ort ausgesucht, um „Amelia“ vorzustellen?

Laurie Anderson: Weil ich diesen Ort sehr liebe. Ich werde hier nostalgisch, wenn ich die ganzen wundervollen alten Gerätschaften erblicke, etwa diese hinreißende Maschine zum direkten Aufnehmen von Vinylplatten. Das katapultiert mich emotional mitten hinein in die siebziger und achtziger Jahre. Und dann die ganzen Kabel! Ich bin fasziniert von Kabeln.

Besitzen Sie selbst noch viele der Maschinen, die Sie für seinerzeit für ihr Album „Big Science“ verwendeten?

Tatsächlich ja. Die meisten zumindest. Mit analogen Geräten und alldem ist es so ähnlich wie mit Büchern oder mit Vinylplatten: Das Hamstern fällt leicht, aber es kommt auch der Tag, an dem du aussortieren musst.

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Woher stammt Ihre Liebe für Technik und Elektronik?

Ich glaube, diese Liebe entspringt meinen Händen. Ich habe seit jeher gern Dinge angefasst und versucht zu ergründen, wie sie funktionieren. Ich lebe in New York in einer Straße mit sehr vielen Leitungen und Drähten, das ist bei uns immer noch so üblich. Immer frage ich mich, wie dieses und jenes wohl funktioniert und was genau am Ende dieser Leitungen geschieht. So ist es auch beim Musikmachen. Ich wollte schon immer wissen, was genau passiert, wenn ich auf diesen oder jenen Knopf drücke oder wie es sich auswirkt, wenn ich dieses eine Kabel umstecke.

Auch Amelia Earhart war eine Tüftlerin und Technikpionierin.

Absolut, das war sie. Das Ding, in dem sie flog, war heiß und laut, und es ließ sich nur sehr schwer gerade in der Luft halten. So eine Maschine zu fliegen erforderte eine richtige Kraftanstrengung. Wenn du heutzutage im Flugzeug sitzt, merkst du gar nicht mehr, dass du überhaupt fliegst. Du wirst in deinen Sitz gezurrt, fühlst dich mehr oder weniger anästhesiert und bekommst irgendwann ein Tablett mit furchtbarem Essen hingestellt. Das Abenteuer ist verschwunden, an seine Stelle ist der Horror getreten.

Aber dafür ist die Wahrscheinlichkeit, das Ziel lebend zu erreichen, heute sehr viel höher als zu Amelias Zeiten.

Laurie Anderson bei einem Konzert in New York.
Laurie Anderson bei einem Konzert in New York. © Getty Images for Tibet House | Ilya S. Savenok

Das ist auch wieder wahr. Da unser Leben heute so viel weniger körperlich ist als früher, müssen wir uns Ersatzhandlungen ausdenken. Der Mensch rennt, fährt Ski, geht ins Gym, spielt Golf – aus dem Grund, weil sein Körper sonst verkümmern würde. Früher war das alles nicht nötig, da machten wir tagtäglich genug mit unseren Händen, unseren Füßen, dem Körper an sich.

Wie halten Sie denn Ihren Körper in Schuss?

Ich mache Tai-Chi. Das ist das Beste. Ich schwimme auch und hebe Gewichte, – ja, ich bekenne mich schuldig, auch ich habe ein Abo fürs Fitnessstudio. Außerdem meditiere ich täglich, aber nicht zu lang, vielleicht eine halbe Stunde.

Flugpionierin Amelia Earhart im August 1932.
Flugpionierin Amelia Earhart im August 1932. © Shutterstock / Everett Collection | Everett Collection

Was hat Sie überhaupt an Amelias Geschichte fasziniert? Erkennen Sie eine Seelenverwandte zu sich selbst?

Ich bin mir sicher, wir hätten uns einiges zu erzählen gehabt. Ich liebe ihre Furchtlosigkeit, und ich kann ihrem Wunsch, diese Erde zu verlassen und in eine andere Welt hinaufzusteigen, sehr viel abgewinnen. Das Projekt an sich existiert ja schon sehr lange, ursprünglich habe ich es im Jahr 2000 als Auftragsarbeit für die Carnegie Hall in New York umgesetzt. Die erste Version war ein reines Orchesterwerk – und zwar eins, das mir nicht sehr gut gelungen war. Denn mit Orchestern, speziell mit den vielen Bläsern, kenne ich mich einfach nicht aus. Vor ein, zwei Jahren nahm ich es mir noch einmal zur Brust und fügte Streicherarrangements ein, aber auch Bass, Schlagzeug und jede Menge Soundeffekte. Das neue Album ist jetzt nur noch ein entfernter Cousin der ersten Version. Jetzt mag ich es sehr.

Sie sind selbst gelernte Violinistin.

Richtig, ich spielte als Kind in Orchestern und liebte diesen romantischen, anschwellenden Klang der Streichinstrumente. Als Mädchen war das für mich wahnsinnig anregend. Ich mochte als Kind und als Jugendliche Popmusik gar nicht so gerne. Ich hörte lieber Klassik. Pop schien mir halt das Zeug zu sein, zu dem man tanzt, im Großen und Ganzen kam mir diese Form von Musik etwas kindisch vor.

Was liebten Sie an klassischer Musik?

Das Überwältigende. Der Sound eines mächtigen Orchesters ist mit nichts zu vergleichen. Er hat mir Angst gemacht und mich überwältigt. Ich liebte diese Überwältigung.

Ist Amelia Earhart für Sie eine Inspiration?

Absolut, auf mehreren Ebenen. Sie hat Frauen ermutigt, Ingenieurin oder Technikerin zu werden, sie war ein feministisches Idol einer Zeit, in der man noch gar nicht vom Feminismus sprach. Sie lebte in einer anderen Epoche, vor fast hundert Jahren, und in jener Zeit war es schon unerhört, dass sich eine junge Frau für Motoren und Schrauben interessierte. Sie war jedoch auch eine große Träumerin. Ich liebe diese Kombination. Das Seltsame ist: Auch heute noch sind Frauen in technischen Studiengängen und Berufen klar unterrepräsentiert. Auch gibt es viel weniger Ingenieurinnen als Ingenieure. Was meinen Beruf angeht, sind die kreativen Aspekte heute weit häufiger in den Händen von Frauen. Die technischen aber noch lange nicht.

Die Geschichte der Amelia Earhart ist also unverändert zeitgemäß.

Für mich ist Amelia eine Lichtgestalt und eine Frau, die Hoffnung macht, gerade in der jetzigen Zeit, wo es passieren könnte, dass wir wieder in eine superpatriarchalische US-Präsidentschaft hineinschlittern. Donald Trump denkt, dass Frauen dumm sind. Und das ist schrecklich. Auch deshalb, weil er mit diesem bescheuerten Denken nicht allein ist. Hoffen wir einfach, dass die Vernunft siegen wird.

Amelia Earhart starb kurz vor Erreichen ihres Ziels, mit dem Flugzeug den Erdball zu umrunden. Am 2. Juli 1937 stürzte sie ab und ertrank gemeinsam mit ihrem Co-Piloten im Pazifik. Ihr Album bildet diesen einen Tag ab. Wären Sie trotz allem gerne bei diesem Flug dabei gewesen?

Nein, denn dann wäre ich ja jetzt tot. Ich denke, sie wusste, dass sie etwa eine Chance von 50:50 hatte. Das ist für mich keine gute Wahrscheinlichkeit, wenn es darum geht, zu überleben oder nicht. Am Ende brach ihr die Antenne ab. Sie konnte nicht mehr navigieren und keine Funksprüche mehr absetzen. Das war ihr Ende. Flugzeuge allerdings haben mich immer fasziniert. Ich komme aus Illinois, einem sehr flachen Teil der Welt. Meine Eltern hatten acht Kinder, und wenn ich meine Ruhe wollte, legte ich mich ins Maisfeld, schaute nach oben in die Wolken und stellte mir vor, die Flugzeuge seien wie Haie im großen Himmelsozean.

Sie machen Musik, Sie malen, Sie fotografieren, machen Filme, schreiben Gedichte. Sind Sie gelegentlich selbst verwirrt von den krassen Brüchen in Ihrer Kunst?

Ganz im Gegenteil. Ich war besonders daran interessiert, künstlerisch immer nur in einer einzigen Spur zu bleiben. Mir kommt es nicht vor, als wären das Brüche, sondern als würde alles aus derselben Quelle kommen. Was es ja auch tut. Wenn ich ein Bild male, benutze ich dieselben Hände, als wenn ich die Violine spiele. Und ich stelle mir bei jedem Projekt dieselbe Frage: Fasziniert es mich selbst?

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