Essen. Neil Tennant und Chris Lowe über Nackttanzen in der Küche, die Flippers, Altersdiskriminierung im Pop und ihr neues Album „Nonetheless“
Das seit vier Jahrzehnten erfolgreiche, legendäre englische Popduo Neil Tennant (69) und Chris Lowe (64) waren schon lange nicht mehr so gefragt wie im Moment. Ihre Songs laufen in angesagten Filmen, sie sind sehr erfolgreich auf Tournee und sie haben das Album „Nonetheless“ aufgenommen, das sehr viel Wärme, Freude, Melodietrunkenheit und auch ein bisschen Nostalgie verströmt. Wir trafen die Pet Shop Boys im Londoner Büro ihrer Plattenfirma und unterhielten uns unter anderem über alte Autos, Schlager und das Nacktbaden.
Neil, Chris, gerade ist eine ziemlich tolle Zeit, um die Pet Shop Boys zu sein, oder?
Neil Tennant: Es ist immer eine gute Zeit, um die Pet Shop Boys zu sein (lacht).
Ihr erster Nummer-Eins-Hit „West End Girls“ feiert in diesem Jahr sein 40-jähriges Jubiläum,Ihre Tournee ist erfolgreich und geht in diesem Jahr weiter, Sie sind mit „Rent“ gerade in dem Film „Saltburn“ vertreten und mit „Always On My Mind“ in „All Of Us Strangers“. Und jetzt kommt am Freitag auch noch das fünfzehnte Studioalbum „Nonetheless“ heraus.
Tennant: Wenn Sie das so aufzählen, fühle ich mich ganz gerührt. Aber es ist schön, und es ist wahr: Wir haben gerade echt einen guten Lauf. Wir haben sonst so gut wie nie Musik in Filmen, und dann in zwei so großartigen, das fühlt sich wirklich cool an. Und das Album finden wir sogar selber richtig gut.
Ihre Tour trägt den Titel „Dreamworld“. Würden Sie gern in einer Traumwelt leben?
Tennant: Ja, total. Die aktuelle Weltlage ist ja wirklich abstoßend. Wir können uns an keine Zeit erinnern, in der es so übel um uns als Menschheit stand wie jetzt gerade. Was wir vor zehn Jahren doch für eine herrliche Zeit hatten – Trump, Brexit, Corona, Ukraine, habe ich was vergessen? Bestimmt! Nichts von dem war schon passiert, und wir ahnten nicht, dass große Umbrüche um die Ecke lauerten.
Dabei haben wir 2014 gewiss auch schon viel lamentiert.
Tennant: Ganz bestimmt. Aber wir wussten damals nicht, wie gut wir es hatten.
Chris Lowe: Vielleicht nehmen wir uns die Dinge auch mit zunehmendem Alter stärker zu Herzen. Als junger Mensch kommst du besser mit Tiefschlägen klar, weil du weißt, dass du noch viel Zeit haben wirst, um sie auszubügeln. Wenn du älter wirst, sehen dieselben Wolken dunkler aus.
Wann sind die neuen Lieder entstanden?
Tennant: Die meisten kamen während der ersten paar Coronamonate zur Welt, in denen wir so richtig viel Zeit und Lust hatten, an neuen Songs zu arbeiten. Der Himmel war blau, ständig schien in diesem Frühling die Sonne, man hatte keine Sorgen, irgendetwas zu verpassen.
Lowe: Das Leben war wunderbar langsam. Es bestand daraus, viel spazieren zu gehen, im örtlichen Bauernladen frische Sachen einzukaufen, Mittagessen zu kochen. Druck und Stress waren völlig verschwunden. Genauso wie die Angst, etwas zu verpassen.
Haben Sie diese Angst sonst?
Lowe: Nein, eigentlich habe ich diese Angst nie (lacht).
Tennant: Ich verließ England fast zwei Jahre lang überhaupt nicht. Ich wüsste nicht, wann ich jemals in meinem Leben so lange am selben Ort war. Ich muss sagen, ich fand das richtig schön. Und für unseren Planeten wäre es gut gewesen, wenn wir ein bisschen was von diesem Lebensstil beibehalten hätten.
In „Why Am I Dancing“ geht es darum, trotz des Alleinseins eine gute Zeit zu haben.
Tennant: Der Song klingt ziemlich melancholisch, hat aber eine irgendwie fröhliche Aura, finde ich. Mir ist das Alleinsein nicht schwergefallen. Ich habe oft allein in der Küche getanzt, zu klassischer Musik oder zu dieser Playlist vom „Kompakt“-Label aus Köln. Es war ein eigenartiges, aber kein unangenehmes Gefühl, so viel allein zu sein, selbst für mich zu kochen und einen total freien Tagesablauf zu haben.
Lowe: Wirklich ein Jammer, dass Du nicht gefilmt hast, wie Du da in Deiner Küche mit Dir selbst gefeiert hast.
Tennant: Was bei mir in der Küche passiert, bleibt bei mir in der Küche (lacht).
Singen Sie nicht sogar, dass Sie genauso gut nackt sein könnten beim Kochen?
Lowe: Bitte Vorsicht in der Küche, während Du die Eier brätst (lacht).
Tennant: Die Zeile ist doppeldeutig, denn „Naked“ heißt auch das Musiktheaterstück, das wir jüngst geschrieben haben und das auf Hans Christian Andersens Märchen „Des Kaisers neue Kleider“ basiert. In einer der Szenen liegt der Hauptcharakter im Krankenhaus und singt das Lied „How Did I Get Here“. Diese Ballade haben wir ein bisschen beschleunigt und in der Albumversion „Why Am I Dancing“ genannt, aber es ist derselbe Song, nur mit anderen Worten.
Haben Sie grundsätzlich eine entspannte Einstellung gegenüber dem Nacktsein?
Tennant: Ich glaube, wir haben noch nicht vollständig die deutsche Herangehensweise an die Nacktheit verinnerlicht. Aber ich war schon mal nackt in einem See schwimmen, in Potsdam. Es war ein so hübscher und lauschiger Abend, da dachte ich mir: Warum nicht? Und so sprang ich nackt in diesen See.
Lowe: Ihr Deutschen seid andauernd und fast überall nackt, oder übertreibe ich da?
Tennant: In der viktorianischen Zeit, gegen Ende des 19. Jahrhunderts, schwammen die Engländer nackt in der Serpentine, dem größten Gewässer im Hyde Park. Ich weiß nicht, wann wir so prüde wurden. Nacktheit ist ja im Kern etwas völlig Natürliches. Nur fingen wir Briten, im Gegensatz zu den Deutschen, vor gut hundert Jahren an, sie völlig zu sexualisieren. Wir sind ein Volk, das sich unheimlich schnell schämt.
Ebenfalls um Einsamkeit, aber um die ernstere Form, geht es in „Loneliness“. Kennen Sie das Gefühl, Neil?
Tennant: Nicht sehr intensiv, aber es hat mich manchmal gestreift. Ich erinnere mich an mein erstes Jahr in London, nach meinem Umzug von Newcastle. Ich lebte mit mehreren in einer Wohnung, und an Ostern waren plötzlich alle weg. Nur ich hatte kein Geld, um nach Hause zu fahren, und blieb ganz alleine zurück. Aber meistens war ich mit meinem Freundeskreis zusammen.
„New London Boy“, das musikalisch stark an Ihre frühen Songs erinnert, spielt vermutlich auch in dieser Zeit.
Tennant: Der Song erzählt das, was zwischen Strophe zwei und Strophe drei in „Being Boring“ passiert. Den Titel hatte ich schon lange im Kopf, und jetzt passte er einfach optimal zu der Musik, die Chris geschrieben hat. Speziell fühlte ich mich inspiriert von David Bowies Song „The London Boys“ aus dem Jahr 1970. Ich hatte die Idee, das Stück, das vor der Glamrock-Welle entstand, in unsere Art von Glam-Pop umzuwandeln. Ich kam 1976 nach London und ich wusste, ich wollte ein Popstar werden. Wir alle trugen Glamrock-Klamotten und färbten uns die Haare. Ich denke, das ist der persönlichste und am meisten nostalgische Song. Er handelt auch von der Nervosität und der Angst, die ich empfand, als ich mir meiner Homosexualität bewusst wurde und damit begann, mir einen Weg in dieses Leben zu bahnen.
Waren Sie neugierig auf Ihr Leben?
Tennant: Total. Neugierde war ein großer Antrieb für mich. Auch die pure Freude, mit meinen Glamrockbrüdern und -schwestern abzuhängen. Wir hatten viel Spaß damals.
Ein knappes halbes Jahrhundert später ist es kein großes Thema mehr, was für eine Sexualität jemand hat.
Tennant: Für den Einzelnen schon, aber als Gesellschaft haben wir in dieser Hinsicht sehr viel erreicht.
Lowe: Wobei es stark davon abhängt, wo auf der Welt du lebst. In Russland, dem Iran oder Uganda ist es die Hölle.
Tennant: Generell ist Religion immer ein Problem. Kirchen sind schwache Organisationen, gucken wir uns doch nur an, wie die russisch-orthodoxe Kirche vor Putin kuscht. Kirchen posieren gern als die Guten, respektieren aber nicht alle Lebensformen, und speziell die katholische Kirche hält Gesellschaften regelrecht auf. Es ist doch zum Beispiel sehr beachtlich, wie gut sich Irland entwickelt hat, nachdem es dem Würgegriff des Katholizismus entronnen war.
Songs wie „Feel“ oder „The Secret Of Happiness“ klingen sehr warm und einschmeichelnd. Wollten Sie eine Platte machen, die die Leute ein bisschen in den Arm nimmt?
Tennant: „Feel“ liegt schon seit über zwanzig Jahren rum. Wir haben das Stück ursprünglich als Single für unser Greatest-Hits-Album „PopArt“ geschrieben, das 2003 rauskam. Aber wir haben es wieder zur Seite gelegt, weil es lange Zeit nicht so richtig rund war. Es wirkt wie ein Liebeslied, handelt aber davon, jemanden im Gefängnis zu besuchen, und zwar den Doppelagenten George Blake, der für die Russen spionierte. Später büxte er aus dem Kittchen aus und setzte sich nach Moskau ab, wo er fast hundert Jahre alt wurde.
Haben Sie mal jemanden im Gefängnis besucht?
Tennant: Nein, das habe ich selbst nie gemacht. Der Song entspringt meiner faktenbasierten Fantasie.
Das poppige, an Ihren Sound der Achtziger angelehnte „Dancing Star“ handelt auch von einer realen Person, oder?
Tennant: Ja, von dem berühmten Balletttänzer Rudolf Nurejew. Chris meint, das wird ein Strandhit. Ich habe eine Dokumentation über ihn gesehen und mochte es, wie sehr er nach der Freiheit strebte und das restriktive Leben in seinem Heimatland hasste. Und insbesondere in den sechziger Jahren konntest du im Westen wunderbar in Freiheit leben, ich war bloß noch zu jung, um das auszunutzen. Nurejew war ein superfaszinierender Kerl, er dirigierte noch an der Metropolitan Opera in New York, als er bereits dabei war, an Aids zu sterben. Ich bewundere seine Stärke und seinen Trotz. Nur ein Detail im Song ist leider inkorrekt. Er sprang nicht im Pariser Flughafen Orly über die Absperrungen, um Russland zu entkommen und in Frankreich Asyl zu beantragen, sondern in Le Bourget.
Sie haben eine Wohnung in Berlin. Ist „The Schlager Hit Parade“ vom Leben an Ihrem Zweitwohnsitz geprägt? Neil, Sie singen unter anderem die schönen deutschen Worte „Glühwein, Wurst und Sauerkraut“.
Lowe: Wir sind von Schlagermusik sehr fasziniert. Einfach, weil das etwas ist, was Ihr Deutschen habt und wir nicht.
Tennant: In der Nähe unseres Berliner Apartments gibt es eine Bar, wo sie gerne Schlager spielen. Wir gehen manchmal dort hin, hören dieser irgendwie lächerlichen Musik zu und genießen sie.
Haben Sie Lieblingsschlagerinterpreten?
Lowe: Die Flippers. Ich habe mal ein ganzes TV-Konzert mit denen gesehen. Die Musik ist sehr gut produziert. Viele Schlagersongs entstehen ja in den „Hansa Studios“, wo wir vor fünf Jahren unser Album „Hotspot“ aufgenommen haben. Der Ort ist berühmt für Bowie und Depeche Mode, aber ich wäre nicht überrascht, wenn die Flippers auch schon dort waren.
Tennant: Auf einer tieferen Ebene erkunden wir in dem Song, warum dieses Phänomen namens Schlager überhaupt entstehen konnte. Meine These ist, dass die Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg nur noch nach vorne und nicht zurückschauen wollten. Diese Musik ist quasi der Soundtrack zum Wirtschaftswunder und dem damaligen deutschen Aufbruch.
Erlauben Sie sich auf „Nonetheless“ mehr Rückschau und Wehmut als sonst?
Tennant: Vielleicht ein wenig. Diese Songs kommen von zwei älteren Herren und reflektieren deren Sicht aufs Leben. Gedanken wie „War dein Leben gut?“ oder „Hat dir was gefehlt?“ schleichen sich heute sicherlich öfter ein als vor zwanzig oder dreißig Jahren.
Interessieren Sie sich noch für neue Musik?
Tennant: Doch. Mein Auto ist Baujahr 2000, also alt genug, um einen CD-Player zu haben. Ich kaufe mir gern CDs und höre sie dann dort. Ich will zum Beispiel Bescheid wissen, wie die neuen Alben von Taylor Swift oder Dua Lipa klingen, ich mag auch Bands wie The National oder The 1975, gerade erst habe ich das Box-Set von Joni Mitchell komplett im Auto durchgehört, großartig! Ich höre aber auch sehr gern Klassik, am liebsten Strawinsky oder Mahler.
Lowe: In meinem Auto habe ich sogar noch einen Kassettenspieler. Das ist aus den frühen oder mittleren Neunzigern. Ich will es so lange fahren, wie ich lebe.
Putzen Sie jeden Samstag Ihre Autos oder warum sind die so gut gepflegt?
Tennant: Das liegt daran, dass wir ein bisschen außerhalb auf dem Land leben und fast nur dort unterwegs sind. Wir möchten uns die Autos nicht in der Stadt ruinieren.
Lowe: Ich fahre überhaupt nicht mehr nach London rein. Diese City-Maut ist viel zu teuer und die Parkgebühren sind der Horror.
Wenn „Hotspot“ Ihr Berlin-Album war, ist dann „Nonetheless“ ihr London-Album?
Lowe: Wir haben es im Osten Londons aufgenommen, aber entstanden ist es auf dem Land. Es ist unser Country-Album (lacht).
Warum haben Sie sich für den Produzenten James Ford entschieden?
Lowe: Wir lieben seine Arbeit mit Simian Mobile Disco und den Last Shadow Puppets und finden es toll, wie er Keyboards und Streicher einsetzt. Überhaupt ist James ein brillanter Musiker, er spielt Bass, Gitarre, Schlagzeug, eigentlich alles. Vor allem aber ist er ein wirklich lustiger Vogel. Wir haben superviel gequatscht, ständig Kaffee getrunken und zu Mittag gegessen. Ein Wunder, dass wir überhaupt manchmal zum Arbeiten gekommen sind (lacht).
In der Rockmusik kommen viele der erfolgreichsten Musiker aus Ihrer Generation. Pop war lange was für junge Leute, aber auch das ändert sich. Spielt das Alter in der Popmusik noch eine Rolle?
Tennant: Ich denke: nein. Der Pop ist sehr gut darin zu akzeptieren, wer du bist. Ich finde es wichtig und richtig, dass die Altersdiskriminierung in der Musik insgesamt stark nachgelassen hat. Die Rolling Stones und Paul McCartney sind 80 und erfolgreich wie eh und je. Wir bewegen uns auf der Bühne glücklicherweise sehr viel weniger als Mick Jagger, aber auch uns hält dieses Leben jung und munter.
Neil, Sie werden im Juli 70. Gibt es ein großes Fest? Oder werde Sie alleine tanzen?
Tennant(lacht): Ein nettes Abendessen wird wohl drin sein, gern auch mit Freunden. Was die rauschende Geburtstagsparty angeht, so habe ich mich entschieden, damit zu warten, bis ich – hoffentlich – 75 werde.