Ruhrgebiet. Zwei Menschen starben durch Polizeischüsse in Moers und Recklinghausen - innerhalb von nur 24 Stunden. Was in Polizisten vorgeht.
Zweimal bereits haben in dieser Woche Polizisten einen Messer-Angreifer erschossen. Nachdem am Montag in Moers ein offenbar psychisch kranker Mann (26) auf Beamte losgegangen war, drückten am Mittwoch in Recklinghausen Beamte ab, als ein 33-Jähriger mit einem Messer auf sie zukam. Zwei Fälle von nun schon elf in diesem Jahr in Deutschland. Eine zufällige Häufung, ein Zusammenhang gar mit Solingen? Die Zahl der Messer-Angriffe jedenfalls steigt, wie das Innenministerium in dieser Woche vorrechnete. Wie die Polizei reagiert.
In Dortmund sitzt seit Dezember ein Polizeibeamter vor Gericht, der ebenfalls einen Mann erschossen hat: Fabian S., 30, ist des Totschlags angeklagt, der Kommissar hat im August 2022 den Senegalesen Mouhamed Dramé getötet. In Notwehr, sagen auch seine vier Kollegen, die mit ihm auf der Anklagebank sitzen: Der junge Flüchtling hatte ein Messer in der Hand, sei auf die Einsatzkräfte zugelaufen. Fabian S. hat man danach als einen „Mörder“ beschimpft, nannte ihn „gefühlskalt“.
Polizist erschoss einen Menschen: „Das wird man nicht los“
Er selbst wehrt sich dagegen. In einem Gespräch mit dieser Zeitung erzählte Fabian S. kürzlich, wie es ihm geht, mit den Vorwürfen, aber auch mit seinem Einsatz selbst. „Es gibt nicht nur ,die Polizei‘“, sagt Fabian S. etwas hilflos, „da stehen Menschen dahinter.“ Für ihn sei es um Leben und Tod gegangen, sagte S. auch in seiner Aussage vor Gericht. Dass er einen Menschen getötet habe, sei schwer zu glauben und zu realisieren. „Man weiß es, aber es bleibt surreal.“ Er habe gehofft, dass er nie wirklich würde schießen müssen. Nun, da es passiert ist, sagt S.: „Das wird man nicht los.“
Angesichts eines deutlichen Anstiegs der Messergewalt in NRW und unter dem Eindruck der Bluttat von Solingen will NRW-Innenminister Herbert Reul den Kontrolldruck insbesondere auf junge Männer massiv erhöhen. 2023 war die Zahl der Straftaten mit Messern drastisch gestiegen. Laut Statistik gab es in NRW 6.221 Straftaten mit Messern und sonstigen Stichwaffen, also rund 17 pro Tag.
Zehn Menschen wurden im laufenden Jahr von der Polizei erschossen, der Fall in Moers am Dienstag eingeschlossen. Dies berichtet Statista.de, die Auswertung stammt von der Fachzeitschrift Bürgerrechte & Polizei/CILIP. Demnach gab es bei sechs Fällen Hinweise auf eine psychische Ausnahmesituation. Bei 45 von 116 Todesfällen seit dem Jahr 2014 verzeichnet die Datenbank Hinweise auf psychische Ausnahmesituationen.
Zum Vergleich: Im gesamten Vorjahr kamen acht Menschen durch Polizeischüsse um, einen Zehn-Jahres-Höchststand gab es 2017 mit 16 Toten.
Polizeiseelsorger Marcus Freitag aus dem Bistum Essen weiß um solche seelischen Nöte von Polizisten, die im Einsatz ihre Schusswaffe gebrauchen mussten. Der Pastoralreferent kümmert sich seit mehr als 20 Jahren um sie, bietet nach belastenden Einsätzen psychosoziale Betreuung an. Er hat Menschen erlebt, die danach nie wieder dienstfähig wurden, die bleibende Angst vor Einsätzen haben. „Das knallt mitten ins Leben, es wirkt unglaublich nach.“ Und es sei auch nicht zu Ende, wenn der Staatsanwalt die Ermittlungen einstellt, rechtlich alles geklärt ist. „Das individuelle Schuldgefühl bleibt länger.“
Polizeiseelsorger: Auch der Schütze ist Opfer dieses Einsatzes
In Fällen wie Moers und Recklinghausen ermitteln aus Neutralitätsgründen benachbarte Polizeibehörden und die dort zuständigen Staatsanwaltschaften. Aber auch falls sie zu dem Schluss kommen sollten, dass die Beamten richtig gehandelt haben, bleiben für die Betroffenen Fragen, sagt Seelsorger Freitag: Habe ich alles richtig gemacht? „Hätte ich eher, schneller, ganz anders reagieren müssen?“ Wenn ein Polizist einen Menschen tötet, gebe es „immer zwei Opfer, auch der Schütze ist Opfer dieses Einsatzes“.
Für den Tod eines Menschen verantwortlich zu sein, sagt Freitag, sei „eine besondere Bürde“. Die kirchlichen Polizeiseelsorger helfen in diesen Fällen, gemeinsam mit ihren Kollegen aus den Behörden. Sie kommen zur akuten Betreuung, wie auch jetzt nach den Ereignissen von Moers und Recklinghausen, sie kommen nach Tagen und Wochen wieder, helfen auch bei der Nachsorge nach längerer Zeit. Angeboten werden Gespräche, in denen sich die Betroffenen zunächst „von der Seele reden“ können, was sie belastet. Später geht es um „spirituelle Grundfragen“ nach Schuld und dem Leben danach, manchmal sind die geschulten Seelsorger auch Türöffner für professionelle Hilfen. Wobei Pastoralreferent Freitag auch erlebt, dass gerade Polizisten sich damit oft schwertun: „Die wollen stark sein.“
Doch das ist nicht immer leicht. „Jeder, der eine Schusswaffe in dieser Form einsetzen musste“, das weiß auch Michael Mertens, der NRW-Vorsitzende der Polizeigewerkschaft GdP, „wird das sein Leben lang nie mehr vergessen. Das prägt und belastet und vielleicht traumatisiert es auch ein Stück weit.“ Zudem könne, wie in Dortmund, die rechtliche Überprüfung „dazu führen, dass man als Polizist plötzlich nicht mehr im Zeugenstand, sondern auf der Anklagebank sitzt“.
Messertaten in NRW: zuletzt durchschnittlich 17 am Tag
Noch vor ein paar Jahren waren die Fälle, in denen Polizisten plötzlich Messerangreifern gegenüber standen, deutlich seltener. Laut der aktuellen Statistik aber gab es in NRW im Jahr 2023 insgesamt 6221 Straftaten mit Stichwaffen – das sind durchschnittliche 17 pro Tag. Mit dieser Häufung wachse, so Mertens, auch bei seinen Kollegen das Bewusstsein, „wie gefährlich Messerangriffe sind. Ein Stich, und ein Leben ist ausgelöscht. Das ist Polizisten bewusst, so wird es uns auch gelehrt.“
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Tatsächlich spielt der Umgang mit Stichwaffen in der Aus- und auch in der Fortbildung in jüngster Zeit eine größere Rolle. Was auch notwendig ist, findet nicht nur Rechtsanwalt Christoph Krekeler, der in Dortmund Fabian S. vertritt. Der Jurist hält spezielle Trainings für den Umgang mit Messerattacken für „sehr ratsam und unbedingt wünschenswert“. Denn mit der statistisch belegten Wahrscheinlichkeit, im Einsatz eine Messerattacke zu erleben, steige auch der Anspruch an die Polizei, „auf die Abwehr lebensbedrohlicher Verhaltensweisen vorbereitet“ zu sein.
Was nicht bedeute, dass Beamte „mit übertriebener Angst“ in Einsätze gingen, das glaubt auch Gewerkschafter Mertens nicht. Aber klar sei: „Wenn man einem Messerangreifer gegenübersteht, hat man nicht viel Zeit zu reagieren. Man muss auch schauen: Wie kann man sich schützen und das Leben des Kollegen?“ In Moers und Recklinghausen sei das so gewesen, in Dortmund auch. Wie weit aber kann man das trainieren?
Messertaten nach Solingen: Blaupause für psychisch Kranke?
Polizisten wissen, auch das lernen sie: Messerattacken seien „Hochstresssituationen“, sagt ein Polizist aus dem Ruhrgebiet, der in seiner Laufbahn Einblicke in die Ausbildung hatte. Egal, ob man mit einem Betrunkenen zu tun habe, „der mit dem Messer rumfuchtelt oder mit häuslicher Gewalt, wenn ein aufgebrachter Ehemann zum Küchenmesser greift“. Und nur noch schlimmer, wenn jemand, wie in Solingen, eine Tat offenbar geplant hat. GdP-Chef Mertens glaubt bei der gegenwärtigen Häufung eher an Zufall, „es mag sein, dass psychisch Kranke nun eine Blaupause bekommen haben, und unterschwellig gibt es sicher auch bei Polizisten ein erneuertes Bewusstsein, wie gefährlich Messerangriffe sind“.
Aber in allen Fällen sind sie nicht nur lebensbedrohlich für Polizisten, sondern auch für andere Umstehende. Deshalb sei auch wichtig, sich selbst zu schützen, sagt der anonyme Beamte aus dem Revier: „Wird der Polizist getötet oder schwer verletzt, während er versucht, einen Täter unschädlich zu machen, riskiert er, dass auch Bürger getötet oder verletzt werden.“
Dortmund: Warum musste der Polizist trotz Taser und Pfefferspray schießen?
Gelehrt wird auch, wie oft zu schießen ist (bis ein Täter das Messer fallen lässt oder selbst handlungsunfähig ist), aus welchen Abständen und mit welcher Waffe: Nur auf die Schusswaffe könne man sich verlassen, sagt der Polizist, der namentlich nicht genannt werden will. „Es bleibt keine andere Wahl, einen Messerangreifer unschädlich zu machen.“ Auf Arme oder Beine zu schießen, sei praktisch kaum umsetzbar. „Es gab Fälle, wo Angreifer noch nach acht Körpertreffern handlungsfähig waren.“
All das ist derzeit auch Thema im Dortmunder Prozess: Zu klären ist, warum Taser und Pfefferspray nicht funktionierten, warum, von wo aus und wann genau Fabian S. abdrückte. Der Kommissar schoss sechsmal, auch danach wehrte sich der Senegalese offenbar noch. Für die Antwort auf die Frage, ob die Polizei richtig reagierte, hat das Landgericht nun auch einen Ausbilder geladen.