Dortmund. Ausbilder erklärt vor Gericht in Dortmund, wie die Polizei für Messerangriffe trainiert. Und warum Schüsse nicht immer zu vermeiden sind.
Für Polizisten sind es „Hochstress-Situationen“, in die sie immer häufiger geraten: Einsätze, bei denen ein Messer eine Rolle spielt. Seit in Dortmund vor zwei Jahren der junge Flüchtling Mouhamed Dramé nach Schüssen aus einer Polizeiwaffe starb, werden Beamte für Lagen, in denen Personen mit Stichwaffen drohen, intensiver geschult. Wie, verriet am Montag ein Ausbilder vor dem Dortmunder Landgericht – und gab seltene Einblicke in die Einsatztaktik.
„Schießen oder nicht schießen?“, so heißt tatsächlich ein „Fachsegment“ der Trainingsinhalte der Polizei NRW. Wie sie in entscheidenden Momenten darauf Antworten findet, darüber redet sie nicht gern. Für den Termin im Zeugenstand des Schwurgerichts brauchte der Beamte am Montag eigens eine Aussagegenehmigung. Die Kammer wartete schon länger auf diesen Ausbilder, der erklären soll, ob die fünf Angeklagten so gelernt haben, was sie im August 2022 in der Nordstadt taten: Damals schossen sie mit Pfefferspray, mit Tasern und mit einer Maschinenpistole auf den Senegalesen, der ein Messer zunächst gegen sich selbst gerichtet hatte. Der junge Mann starb; den Polizisten wird schwere Körperverletzung, dem Schützen Totschlag vorgeworfen.
Pfefferspray: Normalerweise lassen Menschen das Messer fallen
Zwei „Reizstoffsprühgeräte“ hat der 39-Jährige mitgebracht und einen Elektroschocker im Köfferchen auch. Er kann berichten, dass wirklich Extrakt von Chilischoten in der Sprühflasche ist und wie viel, wie viele Meter weit er wirkt und wie: Normal sei, dass Menschen die Augen schließen, sich wegdrehen, vielleicht einen Würgereiz bekommen und schwer Luft. Die „Idee“ dahinter: „Man will den Widerstand herabsetzen“, etwa gegen eine Festnahme. Die meisten Personen, sagt der Experte, „lassen alles fallen, gehen auf die Knie“.
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Mouhamed Dramé aber, so weiß man nach einem Dreivierteljahr der Beweisaufnahme, stand auf und bewegte sich mit seinem Messer auf die Beamten zu. In zehn Prozent der Fälle, zitiert der Zeuge aus Erfahrungen der Bundespolizei, wirke Pfefferspray tatsächlich gar nicht.
Polizeiexperte: Tasertreffer sind manchmal „ein Glücksspiel“
Auch der Taser hatte bei Dramé offenbar wenig Wirkung. „In der Regel kommt die Person zu Fall“, sagt der Ausbilder. Dafür müsse man aus der richtigen Entfernung richtig treffen, was „gar nicht so leicht“, wenn nicht gar „ein Glücksspiel“ sei. Gutachter haben bereits dargelegt, dass nur einer von zwei Schockern richtig traf, sodass ein etwa fünf Sekunden langer Stromschlag überhaupt entstehen konnte – unter anderem an den Genitalien des späteren Opfers. Bei Stichwaffen allerdings bezweifelt der Ausbilder, dass ein Taser „grundsätzlich das richtige Einsatzmittel“ sei. Er könne aber beruhigend wirken durch sein bloßes Geräusch. Das laute „Knistern“ macht der Polizist im Gerichtssaal vor, wirft auch Zielpunkte an die Wand.
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Auf die Frage, wann man aber nun Spray, Strom, scharfe Munition einsetze, kann der Ausbilder immer wieder nur allgemein antworten. Für keine der Waffen gebe es ein „Ge- oder Verbot“, alles hänge von der jeweiligen Situation ab – und von der Zeit, die Kollegen im Ernstfall hätten. Und: „Je schneller sich eine Person bewegt, desto unwahrscheinlicher ist es, sie zu treffen.“ Man müsse „Zwangsmittel“ jedenfalls immer androhen und sich fragen: „Sind sie geeignet, erforderlich und angemessen?“
Wann welche Waffe warum zum Einsatz kommt, werde bei „Szenarien-Trainings“ der Polizei möglichst praktisch nachgestellt. Die Dortmunder hat der Ausbilder noch nicht nachspielen lassen, wohl aber ähnliche Beispiele: Eine Person mit einem Messer bewegt sich nicht; die Person stürmt nach vorn; eine Person steht ganz nah und zieht eine Stichwaffe plötzlich... Es gibt dafür „Musterverlaufspläne“, in denen etwa steht, dass es „günstig“ ist, Abstand zu wahren und eine Situation statisch zu halten. Was in Dortmund nicht gelang, nach Einschätzung des Experten aber auch nicht gelingen konnte: „Bei Messerangriffen ist das nicht möglich.“ Es gebe ohnehin „immer die Möglichkeit, dass etwas nicht gelingt“.
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Wichtiger Aspekt sei in den Übungen „deeskalierende Kommunikation“. Im Fall Dramé war diese zwar versucht worden, offenbar aber gab es Verständigungsprobleme mit dem Senegalesen. In der Regel seien Polizisten angehalten, mit einer aggressiven Person zu „reden, so lange Zeit bleibt“. Wenn Kommunikation nicht möglich sei, ein Ausweichen nicht oder Abstand zu gewinnen, sagt der Ausbilder: „Dann ist der Schusswaffengebrauch sehr wahrscheinlich.“ Im Fall, dass ein Polizist davon ausgehen müsse, dass er selbst oder ein Partner getroffen wird, „wird er schießen“. Und zwar auf den Oberkörper oder den Hüftbereich, denn nur dort gebe es „eine realistische Chance zu treffen“. Das Ziel sei, die Bewegung zu stoppen. Also: „Schießen, schießen, schießen, bis die Person zu Fall kommt.“ In Dortmund schoss Kommissar S. sechsmal.
Neues Polizeikonzept kam für Dortmund zu spät
Der Abstand, wie in Dortmund immer wieder betont wird, sei dabei nicht entscheidend. Die „Sieben-Meter-Regel“, auf die auch der Schütze sich vor Gericht berufen hat, stamme aus einer 40 Jahre alten Experimentierreihe aus den USA, sagt der Ausbilder. Sie bedeute weder, dass ein Abstand zu einem Täter von mehr als sieben Metern sicher sei, noch dass man bei weniger schießen müsse.
Nun gilt all‘ das erst seit April 2023. Die in Dortmund Angeklagten also können das neue Konzept zum Umgang mit Messertätern und mit psychisch auffälligen Tätern noch gar nicht gelernt haben. Auch die Ansprache suizidgefährdeter Personen stand noch nicht auf dem Lehrplan. Aber auch, ob die Polizisten entsprechend trainiert haben, die erst in der vergangenen Woche in Moers und Recklinghausen Männer mit Messern erschossen, bleibt am Montag offen. Der LAFP-Mann schult selbst andere Ausbilder; was vor Ort weitergegeben wird, „ist eine Entscheidung der jeweiligen Behörde, es gibt kein verbindliches Konzept“. Und auch kein festes Stundenkontingent dafür.