Essen. Eltern von neuen Kita-Kindern freuen sich über die ersten freien Stunden seit langem – und nutzen sie nicht. Wie macht man mehr aus seiner Zeit?
An einer Supermarktkasse in Essen vor gut einem Jahr: Eine Kassiererin in Elternzeit lässt ihren Käse und Quark von einer Kollegin einscannen und erzählt, dass ihre Tochter sich ganz wunderbar in der Kita eingewöhnt hat. „Ich habe auf einmal Zeit“, sagt sie mit einem breiten Lächeln. Und fügt dann mit leiserer Stimme hinzu: „Ich weiß gar nicht, was ich machen soll. Ich bin das nicht mehr gewohnt!“
So wie dieser Mutter wird es bald vielen Eltern ergehen. Mit jeder Stunde mehr, die das Kind ohne Mama oder Papa in der Kita verbringt, gewinnen sie etwas mehr eigene freie Zeit zurück – vorausgesetzt, sie müssen nicht sofort wieder arbeiten. Genau diesen Freiraum hatten sie sich gewünscht. Schließlich haben sie in den vergangenen Jahren oft gesagt: „Das mache ich mal, wenn ich Zeit habe!“ Den Keller aufräumen, eine Bewerbung schreiben oder sich einfach mal eine Massage gönnen. Und dann haben sie Zeit – und wissen sie nicht zu nutzen.
Die Kassiererin in Elternzeit erzählt: „Ich habe erstmal eine Stunde auf der Couch gesessen und mit dem Handy gespielt. Dabei war noch nicht mal der Frühstückstisch abgeräumt.“ Die Kraft, mit der sie sonst den Alltag wuppt, schien verpufft. Als sie ihre Tochter schließlich von der Kita abholte, fragte sie sich: „Wo ist nur die ganze Zeit geblieben?“
Wie nutze ich meine Zeit am besten?
Wie nutzt man seine neu gewonnene Zeit am besten? Muss man sie überhaupt nutzen? Und wie geht man mit dem schlechten Gewissen um, wenn die Stunden nur so vergehen, ohne etwas vermeintlich Sinnvolles geschafft zu haben? Antworten gibt Jürgen P. Rinderspacher vom Institut für Ethik und angrenzende Sozialwissenschaften an der Uni Münster. „Mit seiner Zeit gut umzugehen, will tatsächlich gelernt sein“, sagt der Zeitforscher. „Aber mehr noch, man muss auch in Übung bleiben.“
„Wir kennen das ja auch, wenn wir aus dem Urlaub kommen und wieder in der Firma arbeiten sollen. Vor allem, wenn wir uns gut erholt haben, fällt das schwer.“ Das sei sogar ein Zeichen dafür, dass wir gut erholt sind. „Wir müssen dann wieder in die effektiven Alltagsroutinen einsteigen, die wir uns in Arbeit und Freizeit zugelegt haben und über die wir ja normalerweise nicht nachdenken“, sagt der 76-Jährige. Er rät also der Mutter, sich selbst eine Wiedereingewöhnung zu gönnen, wie nach dem Urlaub. Langsam und bewusst den Tag neu gestalten, ohne sich unter Stress zu setzen.
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„Und manchmal ist es ja auch gar nicht so falsch, seine Zeit zu verdaddeln, zum Beispiel sich mit der Nachbarin am Gartenzaun zu verplauschen. Das hochgeschraubte Effizienzdenken, das unseren Alltag beherrscht, ist ja oft auch eine Ursache eines andauernden Überlastungsgefühls, insbesondere in der berühmten ,Rush-Hour des Lebens‘“, sagt der Mitbegründer und das Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik.
„Entscheidend ist natürlich, dass man selbst nicht das Gefühl hat, seine wertvolle Zeit vergeudet zu haben.“ Wobei man da nie ganz unabhängig ist von der gesellschaftlichen Vorstellung, von den Kreisen, in denen man sich bewegt, was angeblich eine sinnvolle Zeitnutzung ist. Da bewerten Freunde, Familie, Kollegen oder Nachbarn, ob es sinnvoll ist, im Garten ein Buch zu lesen, seine Mails zu checken oder doch lieber das Unkraut zu zupfen.
Das Handy sei wie früher der Fernseher ein großer Verführer. Allerdings verteufelt der Forscher das Smartphone nicht, schließlich könne man damit auch sehr sinnvolle Dinge anstellen, sich zum Beispiel informieren oder mit Freunden Kontakt halten. „Von morgens bis abends – auch gute – Kriminalromane zu lesen, muss nicht sinnvoller sein, auch wenn ,Lesen‘ als solches eher dem bürgerlichen Ideal sinnvoller Zeitverwendung entspricht.“
Mütter und Väter müssen lernen, Zeit zu verlieren
Warum es Müttern und Vätern vielleicht besonders schwerfällt, mit der neu gewonnenen Zeit gut umzugehen, hat womöglich noch einen anderen Grund: „Im Umgang mit Babys und kleinen Kindern müssen wir normalerweise erst einmal alles vergessen, was mit Effizienz zu tun hat. Sie drängen uns mit ihren großen und kleinen Bedürfnissen ihren eigenen Rhythmus auf, wir müssen dann lernen, Zeit ,zu verlieren‘, tausendmal die gleichen Spielchen machen, und auch unser Schlafrhythmus ist nicht mehr unser eigener. Die Zeitlogik von Kindern ist eben – hoffentlich noch lange – eine ganz andere als die der Erwachsenen, viel mehr an ihren unmittelbaren Bedürfnissen orientiert, die auch möglichst sofort befriedigt werden wollen. Gleichzeitig müssen die vielen Dinge des Alltags nach den Zeitkriterien der Erwachsenenwelt gemanagt werden.“ Das sei oft ein herausfordernder Spagat, den Eltern da bewerkstelligen müssten.
Eltern träumen von mehr freier Zeit
Die Kollegin der Kassiererin mit dem Kita-Kind lächelt müde, als sie die Zeit-Sorgen hört. Man muss kein Gedankenleser sein, um den Blick zu deuten: „Deine Probleme hätte ich auch gerne mal!“ Aber der Traum von freier Zeit ist etwas anderes, als sie wirklich zu haben. Rinderspacher sagt selbstkritisch über die sozialwissenschaftlichen Zeitforscher, dass sie lange Zeit lediglich davon ausgegangen sind, dass Menschen hierzulande allgemein immer zu wenig Zeit haben. „Sie haben sich zu wenig darum gekümmert, was mit denen ist, denen Tag für Tag die Decke auf den Kopf fällt.“
Schließlich könne man in der Regel nur dann ein erfülltes Leben führen, ohne sich einsam zu fühlen, wenn man genug Möglichkeiten hat, seine Zeit mit anderen Menschen, mit interessanten Dingen, an unterschiedlichen Orten zu verbringen. Der Sozialwissenschaftler spricht von „zu wenig Chancen der Zeitbindung“. Und die hätte man eben nicht nur, „wenn man zu wenig Zeit hat, sondern auch, wenn man zu viel davon hat.“ Kurz gesagt: „Zu viel Zeit macht auch nicht glücklich!“
Und dann plagt einen das schlechte Gewissen, dass man seine Zeit nicht gut nutzt. Aber woher kommt das schlechte Gefühl des Versagens? „Weil es in der Gesellschaft so hip ist, immer keine Zeit zu haben, und weil man damit seinen gesellschaftlichen Status aufwertet, indem man dies allen zeigt, geht es denen, die aus irgendwelchen Gründen zu viel Zeit haben, schlecht – sowohl was das Ansehen in der Gesellschaft als auch was das Selbstbild betrifft. Ich bezeichne dieses Phänomen als prekären Zeitwohlstand.“ Der Autor mehrerer Zeit-Bücher vergleicht es mit einem Menschen in einer viel zu großen Wohnung. Als dort noch die ganze Familie lebte, passte sie. Aber im Alter, wenn man alleine ist, wird sie einem viel zu groß. „Besitz kann ja auch Last sein, hier eben Zeitbesitz.“
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Wenn man weiß, dass man bald mehr freie Zeit hat, sollte man diese also besser planen, anstatt sie auf sich zukommen zu lassen? „Ja und nein“, sagt Rinderspacher. Ja, weil es schon sinnvoll sei, sich für eine neue Lebensphase etwas Neues vorzunehmen. Nein, weil es immer am schönsten sei, wenn man ganz vergessen hat, auf die Uhr zu schauen. „Viele takten ihre Freizeit so durch, stopfen immer noch mehr und mehr gute Ereignisse, Hobbys und anderes hinein, dass sie schöne Momente, die auch mal mehr Zeit erfordern können als geplant, gar nicht mehr erkennen.“ Wie etwa spontan mit einem alten Bekannten, den man zufällig trifft, im Café gemütlich zusammenzusitzen.
Zeit nicht verstreichen lassen, Prioritäten setzen
Die Kassiererin mit dem Kita-Kind fängt schließlich wieder an zu arbeiten und muss Beruf und Familie unter einen Hut bringen. Die Zeit wird wieder knapp. Wie macht man aus seiner wenigen Zeit mehr? „Den zeitlichen Muskel wieder trainieren“, empfiehlt Rinderspacher. Also stärker Prioritäten setzen, Anforderungen von anderen und an sich selbst unter die Lupe nehmen. Vielleicht schafft man sich einen Staubsaugerroboter an, der einem Arbeit abnimmt? Und: „Sich wieder ein dickes Fell zulegen, wenn’s mal nicht so klappt – und sich klarmachen, dass die eigenen Bedürfnisse ebenso wichtig sind wie äußere Ansprüche“, rät Rinderspacher. „Und möglichst einen Beruf haben, der einem Freude macht, damit auch die Erwerbsarbeit keine verlorene, sondern – soweit möglich – erfüllte, gewonnene Zeit ist.“
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