Essen. Der eigene Weg muss außergewöhnlich sein, glauben viele. Höher, schneller, weiter. Sonst hat man sein Leben verpfuscht. Aber stimmt das?

Wann sollte man spätestens den Partner fürs Leben gefunden haben? Wann ist die beste Zeit für das erste Kind? Wann sollte man sein eigenes Haus besitzen? Und fühle ich mich dann endlich angekommen? Solche Fragen treiben viele Menschen um – und viele meinen, früh darauf eine Antwort geben zu müssen. Die Psychotherapeutin Antonia Speerforck beschäftigt sich mit essenziellen Fragen der Lebensplanung – und begegnet zweifelnden Menschen besonders zwischen 20 und 30 Jahren. Warum besteht da offenbar so ein großer Druck?

Frau Speerforck, viele junge Menschen handeln ihr Leben wie eine große To-Do-Liste ab – und stehen dabei unter immensem Druck. Hat sich dieser Druck erhöht im Vergleich zu den vorhergehenden Generationen?

Der Druck, etwas Außergewöhnliches aus seinem Leben zu machen, ist sicherlich gestiegen. Da spielen die Sozialen Medien eine große Rolle, weil wir geflutet werden mit Bildern von Menschen mit außergewöhnlichen Lebensläufen, auch mit vielen Traum-Geschichten in der Art: Ich habe mir ganz früh etwas Spektakuläres vorgenommen, es begonnen und alle Widrigkeiten überwunden. Das sind natürlich Einzelfälle, die aber in uns den Druck wachsen lassen. So entsteht manchmal ein Gedanke wie: Ich muss, um ein gutes Leben zu haben, etwas Außergewöhnliches erreichen. Normal reicht nicht.

Was wären denn normale Vorhaben? Ehe, Kinder, Haus, Karriere?

„Es ist hilfreich, auch mal in Momenten, in denen es uns insgesamt gut geht und wir uns rund fühlen, wahrzunehmen: Was trägt dazu bei?“, sagt Psychotherapeutin Antonia Speerforck.
„Es ist hilfreich, auch mal in Momenten, in denen es uns insgesamt gut geht und wir uns rund fühlen, wahrzunehmen: Was trägt dazu bei?“, sagt Psychotherapeutin Antonia Speerforck. © privat | Privat

Normal gibt es ja gar nicht. Aber sicher gehören für die meisten Menschen ein, zwei oder mehrere von den Dingen, die Sie gerade genannt haben, zur Idee eines gelingenden Lebens dazu. Außergewöhnliche Ziele, sowas wie: „Ich werde mal Astrophysikerin“, das erlebe ich eher selten. Häufiger ist, dass auch die vermeintlich „normalen“ Stationen mit großen Erwartungen aufgeladen werden.

Sind die meisten Lebensplaner eher konservativ?

Nicht unbedingt, denn viele Leute stellen die klassischen Punkte auf dieser Liste auch in Frage: Muss ich wirklich eine Ehe führen oder eine klassische Beziehung? Muss ich tatsächlich einen Beruf ausüben, bei dem ich eine Karrierestufe nach der anderen hochklettere? Die Jüngeren überprüfen die Ideen der Eltern, um ein Leben nach den eigenen Maßstäben zu führen.

Leben die Planer da in einer Welt, welche extrem hohe Ansprüche an sie stellt?

Die Ansprüche sind in der Tendenz gestiegen. Der Perfektionismus in Bezug auf Lebensentwürfe hat zugenommen. Ich sage manchmal überspitzt: So wie Hollywood den Blick auf unsere Beziehungen verändert hat, so haben die Sozialen Medien auch die Erwartungen an unsere Lebenswege verzerrt. Es gibt wenige, die sagen: Ich bin Lehrer wie mein Vater und mein Großvater – und das ist fein. Der Wunsch, Erfüllung und Sinn zu finden, ist ganz natürlich. Aber der Druck, wie das auszusehen hat, ist heute sehr hoch.

Woher kommt dieser Druck?

Der Druck kommt sicher von außen, aus unseren Familien und der Gesellschaft, aber wir übernehmen ihn oft für uns. Viele wollen ein Gefühl, dass sich ein Lebensschritt wie der einzig Richtige anfühlt. Wenn die Ansprüche von außen steigen, steigen sie auch in uns. Ich will das gar nicht so sehr bewerten, denn wir alle leben in einer komplexen Welt, die zu vergleichen an jeder Ecke einlädt.

Früher konnte man sich bestenfalls alle paar Jahre beim Klassentreffen mit vielen anderen vergleichen…

Und heute ist man quasi konstant auf einem Klassentreffen. Früher gab es ganz viele, von denen hat man nie wieder was gehört. Und heute gibt es ja kaum jemanden, dessen Lebenslauf sich nicht übers Internet tracken lässt. Das macht natürlich etwas mit einem.

Wie weit verbreitet ist das Gefühl, dass man beim Erreichen seiner Ziele immer zu langsam ist?

Vielen geht es sicher so, gerade bei Meilensteinen wie runden Geburtstagen schaut man dann nach links und rechts. Oft kommt der Druck, sich nicht zu viel Zeit für die Suche lassen zu dürfen, auch von unseren Familien. Eine Rolle spielt, was wir selbst erfahren haben und wie leistungsbezogen unsere Eltern sind. Aber es geht nicht allen Menschen so, dass sie sich zu langsam fühlen. Es gibt auch Leute, die können das Leben gemächlich angehen lassen und denen geht es damit sehr gut. Aber natürlich lässt uns die Welt, in der wir leben, mit ihrem „Höher, schneller, weiter“ nicht kalt – und die Familie, in der wir aufwachsen, ebenfalls nicht. Es ist auch schön, dass wir uns von ihnen berühren lassen. Trotzdem ist es hilfreich, immer wieder abzugleichen: Entsprechen diese Vorstellungen mir selbst oder habe ich sie nur übernommen und möchte eigentlich andere Maßstäbe für mich anlegen?

Und das gilt auch für die Geschwindigkeit?

Schnell und langsam sind Kategorien, die relativ sind und sich ja auch mal ändern. Man hat Zeiten, in denen man schneller vorankommt, in denen man mehr Kraft hat und in denen man auch Lust hat, etwas zu bewegen. Und dann gibt es wieder Zeiten, die eher der Ruhe und Vertiefung dienen. Außerdem können wir in unterschiedlichen Lebensbereichen sehr unterschiedlich „schnell“ sein.

Wie glücklich macht es uns, die Ziele auch zu erreichen?

Ziele sind wichtig, keine Frage. Aber wir sollten nicht überschätzen, wie glücklich oder angekommen im Leben wir uns fühlen, wenn wir eine bestimmte Zielmarke überschreiten. Wir leben oft in der Vorstellung: Wenn ich dies und das erreicht habe, dann passiert auch dieses und jenes. Natürlich ist dann das Potenzial für eine Enttäuschung groß. Denn häufig normalisiert sich unser Befinden auch wieder. Genauso wie negative Gefühle nicht ewig anhalten, halten eben auch diese euphorischen Gefühle nicht ewig an. Im Grunde besteht ein zufriedenes Leben darin, dass wir im Großen und Ganzen im Einklang mit unseren Bedürfnissen und Fähigkeiten leben. Und nicht darin, dass wir anhaltend über unsere Grenzen hinaus gehen und unsere Bedürfnisse missachten, um ein einzelnes, großes Ziel zu verfolgen.

Kommt man so auch in Einklang mit sich?

Es ist hilfreich, auch mal in Momenten, in denen es uns insgesamt gut geht und wir uns rund fühlen, wahrzunehmen: Was trägt dazu bei? Was brauche ich eigentlich für ein stimmiges Leben und was bekommt in anderen Momenten vielleicht zu wenig Raum? Bei vielen Menschen ist etwa der „innere Karrierist“ ein großer Anschub und macht einen großen Anteil der Persönlichkeit aus. Aber man muss dabei ein bisschen aufpassen, dass man nicht die anderen Anteile seiner Persönlichkeit mit ihren Bedürfnissen vergisst. Das passiert manchmal bei einseitigen, vor allem beruflichen Zielen. Das erlebe ich immer wieder etwa bei Männern, die sehr stark auf Karriere gesetzt und manchmal ihre anderen Bedürfnisse vernachlässigt haben. Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit, nach Bindung und Erholung etwa. Als stimmig bezeichne ich einen Zustand, in dem ich mit all diesen Seiten in mir in Kontakt bin. Auch, wenn ich nicht alle zugleich befriedigen kann. Aber man sollte wissen, dass es sie gibt.

Wenn man an einem Ziel scheitert, ist das dann automatisch ein herber Verlust?

Es ist hilfreich, sich selbst und seine Ziele zu hinterfragen – und zwar liebevoll zu hinterfragen, nicht nur kritisch, denn das machen viele von uns oft genug. Wir verändern uns, unser Leben verändert uns. Warum sollten sich unsere Ziele nicht auch verändern dürfen? Wir überschätzen häufig, wie viel Kontrolle wir über unser Leben und über unsere Zielerreichung haben. Es ist sinnvoll, sich zu öffnen, auch dafür, dass Zufälle passieren, gute und weniger gute. Es hilft anzuerkennen, dass man nicht so viel kontrollieren kann, wie man möchte – und dass man das vielleicht auch gar nicht muss. Und dass man auch ein gutes Leben haben kann, wenn man Ziele nicht erreicht, die man sich vor 5 oder 50 Jahren gesteckt hat. Und vielleicht lege ich ein Ziel zur Seite – und habe irgendwann später wieder Lust, es noch mal aufzugreifen.