Münster. . Die Zeit scheint immer schneller zu vergehen. Zeitforscher Jürgen P. Rinderspacher erklärt, woran das liegt. Und wie wir das ändern können.
Zeit ist Geld. Nicht nur während der Arbeit auch am Wochenende wollen wir möglichst viel in kurzer Zeit schaffen oder erleben. Maren Schürmann sprach mit Jürgen P. Rinderspacher (69) vom Institut für Ethik und angrenzende Sozialwissenschaften an der Uni Münster – über Zeit, die scheinbar nur so verfliegt, und die man trotzdem mal verschwenden sollte.
Wenn es für den nächsten Bus knapp wird, weiß man, was „Zeit“ bedeutet. Aber was verstehen Wissenschaftler darunter?
J. P. Rinderspacher: Einen einheitlichen Zeitbegriff gibt es nicht. In der Philosophie wird seit 2000 Jahren darüber debattiert. Dann gibt es noch den physikalischen Zeitbegriff und den sozialwissenschaftlichen – das ist mein Beritt. Wir unterscheiden zwischen der zweckorientierten Zeit und einer eher bedürfnisorientierten Zeit. Das sind die zwei Felder, zwischen denen wir uns im Alltag hin- und herbewegen.
Können Sie das konkretisieren?
Schauen wir uns die Biografie eines Menschen an: Ein Neugeborenes kennt noch keine zweckorientierte Zeit. Es geht um seine Bedürfnisse. Es hat Hunger, es möchte schlafen. In der Schule, im Beruf muss man die Zeit nutzen. Die Zeit ist ökonomisiert, sie wird zur Ware. Das ändert sich erst wieder im Alter, besonders bei sehr alten Menschen. Sie leben sozusagen wieder stark in der bedürfnisorientierten Zeit, sie haben mehr frei verfügbare Zeit.
Unser Verständnis von Zeit hat also viel mit der Arbeitszeit zu tun. . .
Zeit ist keine natürliche Sache, sondern eine kulturelle Errungenschaft. Das beginnt mit der Industrialisierung, als die Trennung von Arbeit und Leben intensiv verfolgt wurde. Früher in der Agrargesellschaft hat man sich stärker am natürlichen Rhythmus orientiert, an Tag und Nacht, den Jahreszeiten. In den letzten 200 Jahren gab es mehrere Entwicklungsschübe: Mit der Durchsetzung der Eisenbahn bis ins letzte Dorf wurde die Zeit zu den Menschen getragen. Man kann Modernisierung als eine gigantische Verzeitlichung der Gesellschaft verstehen: Alles wird in Zeit gemessen. Wenn Sie in der Rush-Hour des Lebens sind, ist jede Minute kostbar
Und Ratgeber zeigen uns, wie wir die Zeit besser managen. . .
Viele Ratgeber vermitteln einem: Du kannst aus deinem Leben mehr herausholen, wenn du zeitlich besser organisiert bist. Also effizienter, mit wenig Zeitaufwand immer mehr Events einsammeln. Und dann hat man fünf Tage frei und fährt in den Urlaub, liegt in der Sonne und überlegt: ,Hätte ich die Zeit, die ich mir mit hohem Aufwand freigeschaufelt habe, nicht besser nutzen können?’ So spürt man immer häufiger das Gefühl des Scheiterns.
Wie kann man das verhindern?
Ich bin der Meinung, dass eine gute Zeitorganisation mit Zeitverschwendung zu tun hat, die die zweckorientierten Regeln außer Kraft setzt. Also dass man sagt, es ist Feierabend, jetzt mache ich nichts, außer das, was mir gerade einfällt.
Die Menschen freuen sich aufs Wochenende, aber nicht alle können mit einem freien Sonntag gut umgehen. Woran liegt das?
Gerade bei älteren Menschen kann zu viel freie Zeit schwierig werden, wenn sie ein Sinn-Defizit haben. Wir suchen ja immer einen Sinn für das, was wir tun. Wenn man nicht sozial eingebunden ist, der Partner verstorben, die Kinder nicht mehr in der Stadt leben, dann empfindet man die Zeit vielleicht als sinnlos. Das Problem ist also nicht das Wochenende, sondern ein Sinn-Defizit.
Zugleich fühlt man, wenn man älter wird, dass die Zeit verfliegt, man hat immer weniger Lebenszeit. . .
Die Idee der begrenzten Lebensspanne ist noch nicht so alt. Frühere Gesellschaften, christlich geprägte, oder islamistische Gesellschaften heute noch, sehen das anders: Dieses Leben ist das Vorstadium, das Schöne passiert nach dem Tod. Wenn man jedoch denkt, dass das Leben begrenzt ist, erhöht das auch den Druck, aus der einmaligen Zeit möglichst viel herauszuholen.
Und dann gibt es Berufstätige, die am Wochenende nicht abschalten können, weil man die Zeit ja auch ganz anders nutzen könnte. . .
Ja, die gibt es. Ein von uns gerade vorbereitetes Forschungsprojekt wird jedoch höchstwahrscheinlich zeigen, dass insbesondere Führungskräfte mit Familie das Wochenende inzwischen wieder sehr schätzen, weil sie in diesem zeitlichen Biotop mal herunterkommen und ihre Lieben sehen können. Anders als unter der Woche, wo sich die Familienmitglieder nur noch die Klinke in die Hand geben.
Muss es das Wochenende sein? Flexibel innerhalb der Woche frei zu haben, ist doch auch schön.
Es kommt darauf an, ob Sie selbst die Zeit flexibel einteilen können oder der Arbeitgeber verlangt, dass man flexibel arbeitet je nach Bedarf. Die Menschen brauchen in einer hochflexiblen Zeit die Gewissheit, am Wochenende wird umgestellt, von der zweck- auf die bedürfnisorientierte gemeinsame Zeit. Viele Schichtarbeiter leiden darunter, dass sie kein richtiges Wochenende haben. Ein freier Dienstag ist nicht das Gleiche wie ein Wochenende. Die Atmosphäre ist eine andere. Das sieht man am Straßenbild, an der Kleidung der Menschen. Weil die anderen zur Ruhe kommen, werde auch ich innerlich ruhiger.
Sie haben den Begriff des Zeitwohlstands mitgeprägt. Was verstehen Sie darunter?
Wohlstand, ein alter Begriff aus der Volkswirtschaft, bedeutet, dass wir möglichst viel von dem haben, was uns wichtig ist. Durch die Industrialisierung konnten wir den materiellen Wohlstand steigern, aber auf Kosten der bedürfnisorientierten Zeit, wenn man an den 12-Stunden-Tag eines früheren Industriearbeiters denkt. Die Gewerkschaften mussten die Zeit für die Arbeitgeber zurückgewinnen. Zeitwohlstand ist ein alternativer Wohlstandsbegriff, eine andere Denkart, die die gemeinsame freie Zeit wertschätzt, aber auch die individuelle Verfügbarkeit über die „eigene“ Zeit.
Wie steht es um unseren heutigen Zeitwohlstand?
Nun, die Arbeitszeit wird immer stärker verdichtet. Durch die ständige Angespanntheit braucht man länger, um sich wieder zu erholen. Man kann viel zu oft nur noch „abhängen“. Die Qualität dieser gewonnen Zeit ist schlecht, bei materiellen Gütern würde man sagen: billiger Ramsch. Zugleich fordert der materielle Wohlstand auch freie Zeit: Die Güter wollen ja genutzt werden.
Sie sprechen von Zeitarmut, wer ist davon am stärksten betroffen?
Es geht um das Verhältnis von Arbeit und Freizeit. Wenn man nur wenige Möglichkeiten hat, seine Zeit selbst zu gestalten, ist man arm. Es gibt Arbeitnehmer im Niedriglohnsektor, die versuchen, den geringen Stundenlohn auszugleichen, indem sie Überstunden oder einen zweiten Job machen. Sie sind im doppelten Sinne arm. Aber auch bei Selbstständigen und Managern gibt es zeitliche Armut, weil sie die Zeit nur noch nach ökonomischen Gesichtspunkten bewerten und sie nicht „verschwenden“ können.
Wie kommen wir zu einem neuen Verständnis von Zeit?
Eigentlich brauchen wir kein neues Verständnis, wir müssen versuchen, bedürfnis- und zweckorientierte Zeiten in eine lebbare Balance zu bringen. Das ist natürlich viel leichter gesagt als getan. Wir müssen lernen, mit unserer Zeit souveräner umzugehen, selbstbestimmter. Man kann dafür eintreten, dass um 20 Uhr das Handy ausgeschaltet wird, dass man im Urlaub für den Arbeitgeber nicht erreichbar ist, dass man nicht die Arbeit des gekündigten Kollegen einfach mitmacht. Und müssen Kinder übers Wochenende Hausaufgaben bekommen? Mit einer anderen Denkart und ebenso mit einer Zeitpolitik, die diese in bessere Zeitstrukturen umsetzt, kann man etwas bewirken.
Weiterlesen: Jürgen P. Rinderspacher: Mehr Zeitwohlstand – Für den besseren Umgang mit einem knappen Gut, Herder, 306 S., 14,99 Euro.