Sachsen-Anhalt. Das Biosphärenreservat Mittelelbe in Sachsen-Anhalt bietet 303 Flusskilometer unberührte Natur. Es steht samt Uferzonen, Orten und Städten unter dem Schutz der Unesco. Naturinteressierte entdecken dort eine vielfältige Fauna und Flora.
Müde kuscheln sich zwei wenige Wochen alte Biber in der Wohnhöhle unter der Wasseroberfläche wieder zwischen ihre Eltern. Einer lugt noch schläfrig unter dem Pelzwirrwarr hervor. War das da etwa eine Bewegung im Dunkeln? Nur eine Glasscheibe trennt ihre dick mit Holzspänen gepolsterte Behausung aus Ästen und Zweigen und den nachtschwarzen Beobachtungsraum, von dem aus die Besucher des Biosphärenreservats Mittelelbe direkt ins Biberschlafzimmer schauen können. „Biber so zu beobachten ist sonst nirgends an der Elbe möglich“, sagt Ingo Fritzsche (49), Tourismusbeauftragter des Reservats. „Wir stören die Tiere nicht und können tagsüber den Touristen alles Faszinierende über die scheuen Nager erklären und zeigen.“
Nach einem Ausflug in die Wildnis kam das Heimweh
Ab der Dämmerung schwimmen die rund 1,20 Meter langen nachtaktiven Tiere in ihrer zwei Hektar großen Freianlage herum, futtern Wasser- und Uferpflanzen und basteln gemütlich an ihren Ministaudämmen. Die spitz zulaufenden, abgenagten Baumstümpfe am restlichen Wasserlauf des Kapengrabens verraten, dass außerhalb der Biberfreianlage auch ihre wilden Verwandten nächtens auf Pirsch gehen. Ingo Fritzsche muss bei der Frage grinsen, ob die Gehege-Biber denn nicht auch lieber wild leben würden. „Einmal war das Tor der Freianlage aufgebrochen. Die Biber waren weg, zwei Tage später saßen sie aber wieder vor dem Maschendrahtzaun und wollten zurück.“
Rund 7500 Exemplare der Ende des 19. Jahrhunderts fast ausgerotteten Tierart leben heute wieder an der Elbe. Im sachsen-anhaltischen Flussabschnitt, der zum Biosphärenreservat gehört, sind es etwa 1200. Nur zwei Prozent der Flussläufe West- und Mitteleuropas waren Ende des 19. Jahrhunderts noch nicht durch Menschenhand verändert worden, und die wilde alte Welt, die das zweitgrößte Nagetier der Erde und seine Vorfahren schon seit Millionen von Jahren bewohnten, existierte nur noch in Relikten. In den Elbtalauen, einer der letzten weitgehend noch intakten Flusslandschaften Mitteleuropas, hatten rund 200 Exemplare überlebt. Urtümliche Auwälder boten ihnen Schutz.
Zwischen Pilgerwegen und geheimnisvollen Auenpfaden
Heute sind diese Landschaften ein echter Geheimtipp für Naturinteressierte und Aktivtouristen. Auf dem Fluss lässt es sich wunderbar paddeln, der flussbegleitende Elberadweg zählt zu den beliebtesten Strecken. Wanderbegeisterte können zwischen Pilgerwegen auf Luthers Spuren und geheimnisvollen Auenpfaden wählen – auf ausgeschilderten Wanderwegen von bis zu zwölf Kilometern Länge, die typische Abschnitte der Natur- und Kulturlandschaft zeigen. Denn während Rhône, Rhein oder Donau längst zu Schifffahrtsstraßen ausgebaut sind, hat die Elbe in Sachsen-Anhalt noch Platz für Ausschweifungen. Allein die ständig leeren Staatskassen der DDR sorgten für satte 50 Jahre Baustopp an dem noch dazu streng bewachten damaligen Grenzfluss zwischen beiden deutschen Staaten.
Heute stehen die gesamten 303 Flusskilometer in Sachsen-Anhalt samt Uferzonen, Orten und Städten unter dem Schutz der Unesco, inklusive der auch sonst streng geschützten, weil ernsthaft bedrohten Pflanzen und Tiere. Wer auf den Exkursionen der Naturwacht durch die mal stillen, mal einem amphibischen Dschungel gleich lärmenden Urwälder der Auen streift, taucht in eine Welt aus schrulligen Überlebenskünstlern, filigranen Schönheiten und majestätischen Riesen ein. Die winzigen Erbsenmuscheln etwa reisen im Gefieder von Vögeln hoch über der Erde in die weite Welt, wilde Orchideen blühen am Wegesrand und die Jahrhunderte alten Eichen der Auwälder stehen stoisch bis zu 100 Tage im Wasserwald.
Biosphärenreservate sind Zukunftslabore
Mehr als 1000 Pflanzenarten kommen hier vor, seltene Obstsorten ebenso wie wärmeliebende Pflanzen der Urzeit. 310 von 469 überhaupt in Deutschland lebenden Vogelarten haben Ingo Fritzsche und seine Kollegen bereits nachgewiesen, dazu mehr als 500 Schmetterlingsarten, einmalig viele Fische, Insekten, Amphibien. Kranich, Seeadler und Weißstorch brüten hier.
Neben den Bibern durchziehen auch Fischotter die Flussläufe. Auf dem ehemaligen Truppenübungsplatz in der Oranienbaumer Heide helfen gar Heckrinder, eine Nachzüchtung der 1627 ausgestorbenen Auerochsen, bei der Landschaftspflege. Im Auenhaus nahe der Biberfreianlage bei Oranienbaum, dem wichtigsten Infozentrum des Biosphärenreservats und bestem Ausgangspunkt für einen Reservatsbesuch, kann sich jeder darüber informieren.
Hier wird klar: Biosphärenreservate sind keine Zoos, sondern Zukunftslabore. Betreten ist auf 97 Prozent der Fläche ausdrücklich erwünscht. Viele Menschen leben und arbeiten mitten im Schutzgebiet, ganze Städte wie Dessau und Wittenberg liegen innerhalb der Reservatsgrenzen. Hier, wo Unesco-geschütztes Natur- und Kulturerbe untrennbar miteinander verbunden sind, sollen beispielhaft Modelle für eine Zukunft gefunden werden, in der Wirtschaft und Wildnis kein Widerspruch mehr sind.
Wer sich anmeldet, bekommt einen Naturkenner zur Seite gestellt
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Im Rhythmus des Paddelschlags schlängeln wir uns von Wittenberg rund 20 Kilometer die Elbe hinab bis in den Wörlitzer Winkel. Ab hier sind es mit dem Rad nur 17 Kilometer bis zum berühmten Bauhaus in Dessau-Roßlau oder auf dem historischen Kopfsteinpflaster der Gartenreichtour Fürst Franz nur noch wenige Minuten bis zu einer der bekanntesten Parkanlagen Europas – den Wörlitzer Anlagen. Sie sind Ursprung und Glanzstück des 142 Quadratkilometer großen Unesco-geschützten Gartenreichs Dessau-Wörlitz. Ingo Fritzsche begleitet uns, denn wer sich zuvor anmeldet, bekommt auf Wunsch fast überall im Reservat kostenfrei einen Naturkenner zur Seite gestellt. Zur Rechten tauchen am Ufer die Türme der Wittenberger Schlosskirche auf, an deren Tür der Reformator Martin Luther einst seine 95 Thesen angeheftet haben soll. Hunderttausende pilgern jedes Jahr zu Fuß, per Rad und eben per Boot zu den Lutherstätten der Stadt. Auf dem Fluss ist von ihnen selbst zur Ferienzeit nichts zu hören. Ein Seeadler kreist über dem breiten Flussbett, am Ufer heben trinkende Schafe neugierig die Nase aus dem Wasser.
Nach der Wende wurde Ingo Fritzsche vom Waldarbeiter zum Naturschützer. Aufgewachsen ist er nur ein paar Elbkilometer weiter, in Coswig. Wenn er von seiner Kindheit an der Elbe, von Opas altem Angelkahn, ja sogar von dem Ärger spricht, den es gab, wenn die Rotzbengel ihn heimlich ausgeborgt haben, wirkt Ingo Fritzsche glücklich. Ein Zwiespalt aber gärt doch gerade in ihm. Darf ein Herr mit Khaki-shirt und Biosphärenreservatsemblem auf der Brust eigentlich chemisches Mückenspray innerhalb des Schutzgebietes benutzen – und das auch noch vor Touristen?