Zuerst Yoga und Atemübungen, dann ran an die Wand: Warum Arco süchtig macht

Immer schön nach oben schauen - und noch nicht an den Cappuccino bei Pio denken. Foto: TV
Immer schön nach oben schauen - und noch nicht an den Cappuccino bei Pio denken. Foto: TV © MSG

Wenn der Fels, rauh und abweisend, keinen Halt zu bieten scheint und auf der anderen Seite nur der Abgrund lauert, dann hilft ein ruhiger Kopf. Klettern fängt im Kopf an. Das sagen diejenigen unter den Kletterern, denen es nicht um „Schneller, Besser, Höher” geht.

Nicht nach unten gucken

Wer zum ersten Mal an diesem Fels klebt und dabei sein Herz gegen den Stein klopfen hört, der findet in seinem Kopf eher Höhenangst als Ruhe. „Nicht nach unten gucken”, ruft Kletterlehrer Lorenzo vom sicheren Boden: „Klettern ist wie Meditieren - nur der Augenblick zählt!” Tief durchatmen, in den Gurt setzen, ausruhen und mal gucken, was im Hier und Jetzt sonst noch so los ist: Es riecht nach Kräutern, irgendwo ruft ein Vogel, und ein leichter Wind bläst Frische in den heißen Nachmittag.

Nicht umsonst haben sich heute die Fels-Fremden mit Lorenzo im Olivenhain zum Yoga-Kurs getroffen. Haben Atemübungen gemacht und gelernt, welche Stellungen das Gleichgewicht stärken und welche die richtigen Muskeln dehnen. Das ist besser fürs Klettern als Krafttraining, sagt der ehemalige Philosophiestudent, der seit vielen Jahren mit dem Fels vertraut ist. Leute wie Lorenzo sind normal in Arco, einem Ort zwischen Weinbergen, Olivenhainen und beeindruckenden Kalksteinmassiven nördlich des Gardasees. Arco ist ein Treffpunkt für Süchtige. Süchtig nach Natur, Nervenkitzel und Gesundheit.

„Klettern ist wie ein Tanz”, sagt Lorenzo. „Nicht mit den Armen hochziehen, sondern mit den Füssen hochstemmen, das spart Kraft”, rät Lorenzo. Also los. Auf einem Fuß ruhen, den anderen spielend nach einem Halt tasten lassen. Richtig spielend sieht das noch nicht aus, aber es geht höher. „Noch ein bisschen”, ermutigt Lorenzo von unten.

Blick ins Tal

Tatsächlich: Es wird. Die unsicheren Füße finden Tritte, die zaghaften Hände finden Vorsprünge, und wenn der Atem schneller wird, kann man sich ja in den Gurt setzen. Und irgendwann, vielleicht beim zweiten oder dritten Aufstieg, sogar einen Blick riskieren. Weit liegt das Tal, grün und silbern schimmern die Olivenbäume, Zypressen zeichnen kleine Tupfer dazwischen, und die Höhenangst macht gerade Pause.

0014977621-0050583246.JPG
© MSG

Danach geht es erst mal auf einen Cappuccino zu Pio. Zum Ausruhen und Leute gucken. Dicke gibt es nicht. Schlaffe gibt es nicht. Verrückte Ideen gibt es reichlich. Von einsamen Klettertouren in unwegsamen Gegenden in Peru schwärmen die Jungs, vom Skifahren im Iran, von einem Leben, das mit den großen Städten nichts zu tun hat. Genau diese Lebensart hat auch Barbesitzer Pio fasziniert. Er wollte irgendwann eigentlich nur Urlaub machen - und ist dann einfach hier geblieben.

Pio ist einer der wenigen Nichtkletterer von Arco - aber die Helden pflastern seine Wände. Großformatfotos von der Begegnung zwischen Mensch und Fels. Die Kletterer kennen sich alle, und wer drei Tage in Arco ist, den kennen sie auch. Weil Arco bis heute wie ein Dorf funktioniert, mit unverrückbaren Fixpunkten: Mittagspause bei Pio, nachmittags Espresso bei Andrea - in dessen eher uncharmanter Hotelbar sich die Einheimischen auch alle wichtigen Fußballspiele angucken - und nachts Pasta bei Lucio.

Ein Vierteljahrhundert Bergfreak-Tourismus hat weder der Dorfatmosphäre noch dem Stadtbild viel anhaben können. Paläste aus dem 16. und 17. Jahrhundert sind so geschickt zwischen pastellfarben gestrichene Wohnhäuser gestreut, dass alle Gebäude historisch scheinen. Buckeliges Kopfsteinpflaster erzwingt den direkten Übergang von der historischen Leder- zur modernen Trekking-Sandale ohne Umweg über den Stöckelschuh. Duftende Oleanderbäume und plätschernde Springbrunnen scheinen zu sagen: Eigentlich hat sich hier nichts geändert.

INFO

Gardasee

Lage: Der Gardasee liegt wischen den Alpen und der Poebene im Norden in der Region Trentino-Südtirol, im Westen in der Lombardei, im Osten in Venetien. Arco liegt fünf Kilometer nördlich des Gardasees in der Provinz Trentino.Anreise: Mit Germanwings von Köln/Bonn nach Brescia oder mit Lufthansa über München nach Verona. Mit dem Auto etwa 1000 Kilometer über München, Innsbruck und Bozen. Mit der Bahn über München in etwa zehn Stunden nach Trento.

Kontakt: Tourismuszentrale Gardasee, 0039-323/30 416, www.derlagomaggiore.de www.trentino.to

Hat es sich natürlich doch. Vom Kurort, in dem sich Erschöpfte vergangener Jahrhunderte zur Traubenkur trafen, ist Arco zum Treffpunkt für Extremsportler geworden. Weil gegen den Alltagsstress des 21. Jahrhunderts am besten Sport und Adrenalinspritzen helfen. Das gibt es beides reichlich hier: in mehr als 2000 Sportkletterrouten, die rund um Arco markiert und gesichert sind oder auf mehreren Hundert Kilometern Mountainbike-Routen, die Biker ins Schwitzen und Schwärmen bringen. Oder im größten Nordic-Walking-Park von Europa mit reichlich Platz zum Stöcke-Schwingen. Oder in den Flüssen beim Canyoning.

Beim Canyoning tut der Mensch, als sei er Wasser. Stürzt sich in eiskalte Bergbäche und folgt ihrem Lauf, komme, was da wolle, Grotten, Schluchten, Wasserfälle. Das soll so elektrisierend wirken, dass immer mehr Firmen solche Ausflüge für ihre Angestellten buchen. Gegen Stress und für Teamgeist und Selbstbewusstsein. Canyoning-Experte Diego sieht eher aus wie ein kleiner Spaßvogel als wie ein Extremsportler. Kann also nicht so gefährlich sein. Oder?

Im dicken Neoprenanzug sitzen die Urlauber wenig später in einer Wasserrinne. Über ihnen Fels, unter ihnen Fels, vor ihnen der Abgrund. Diego sagt: „Hände an den Körper, Oberkörper vorbeugen und los!” Ein Spaßvogel eben.

Der ängstliche eigene Kopf sagt: Das geht nicht. Das ist lebensgefährlich. Das ist unmöglich. Der Körper hingegen stößt sich einfach ab und rutscht und schwebt und landet mit einem gewaltigen Platschen in einem Wasserbecken aus Fels. Zum Denken bleibt danach keine Zeit mehr, weiter geht es, durch Stromschnellen, über glitschige Felsen, in glasklare Wasserbecken. Und es geht immer besser, der Kopf wird immer leichter. Einen Wasserfall runterrutschen? Kein Problem! Schnell in den Klettergurt schnallen lassen und ab geht's.

Der Rücken lehnt am nassen Fels, die Sonnenstrahlen glitzern wie Diamanten im Fluss, eiskühles Wasser rinnt über Stirn und Schläfen, der Blick in den Abgrund ist wunderbar weit und frei: Nicht nur Klettern fängt im Kopf an.