Düsseldorf. Erfahrene Spürnasen, moderne Technik: Wie die Polizei alte Mordfälle mit neuen Mitteln doch noch löst und wie Hinterbliebene reagieren.

Es ist ein Geschenk, dieser Moment, wenn sie den Angehörigen sagen können: Wir haben ihn! Den Mörder Ihrer Mutter, Ihres Vaters, Ihrer Tochter, nach 20 Jahren, nach 30 oder fast 40. Hochemotional nennen es selbst altgediente Polizisten, wenn es ihnen gelingt, einen Fall aufzuklären, der schon so lange zurückliegt. Zuletzt ist das einige Male gelungen. Mit Hilfe eigentlich schon pensionierter Kripoleute und moderner Kriminaltechnik konnte die Polizei sogenannte „Cold Cases“ – alte, längst eingestellte Fälle – doch noch lösen.

Sie haben den „Karnevalsmörder von Köln“ geschnappt. Und den „Mord im Maisfeld“ von Meerbusch aufgeklärt. In beiden Fällen waren Frauen getötet worden, einen Täter verriet DNA unter dem Fingernagel des Opfers, den anderen ein Zeuge. Mehr als 30 Jahre lang hatte die Kriminalpolizei die Mörder zuvor nicht finden können. Das passiert selten bei Kapitaldelikten, die zu weit über 90 Prozent aufgeklärt werden können. Aber wenn es nicht gelingt, ist es schrecklich für die Familien, die ohnehin schon leiden. Und auch schrecklich für die Polizei: „Es macht sehr betroffen“, sagt der Düsseldorfer Kriminaldirektor Colin B. Nierenz. Er nennt es eine „große Last auf den Schultern der Ermittler, wenn man Fälle nicht klären kann. Das lässt einen nicht in Ruhe“.

Die Staatsanwaltschaft Dortmund stellte im Januar dieses Jahres ihre Cold Cases vor.
Die Staatsanwaltschaft Dortmund stellte im Januar dieses Jahres ihre Cold Cases vor. © picture alliance/dpa | Bernd Thissen

Keine Floskel: Mord verjährt niemals

Nordrhein-Westfalen richtete deshalb im November 2021 beim Landeskriminalamt eine „Besondere Aufbauorganisation (BAO)“ ein, die Altfälle vergangener Jahrzehnte noch einmal anschauen sollte. Denn: Mord verjährt nicht, niemals. „Für uns ist das keine Floskel“, erklärte LKA-Chef Ingo Wünsch, „sondern eine nie endende Verpflichtung.“ Für eineinhalb Projektjahre wurden 23 ehemalige Polizisten und eine Polizistin neu eingestellt, die eigentlich schon ihre Pension genossen: frühere Leiter von Mordkommissionen, Kripochefs, Vermisstensachbearbeiter, Spurensicherer. Mit ihrer Erfahrung gruben sie sich tief in die „Cold Cases“ und manche alte Spur wieder aus. Man nannte sie die „Rentner-Cops“, und Colin B. Nierenz war ihr Chef.

Der 47-Jährige, heute stellvertretender Kripochef in Düsseldorf, sieht es noch vor sich: Wie sie die alten Akten holten aus Katakomben und Kellerarchiven von Staatsanwaltschaften und Polizeibehörden, und sie dort überhaupt erst suchen mussten: „Sind die Unterlagen noch da, gibt es die Beweismittel noch?“ Mord- und Tötungsdelikte, die Ermittlungen vor Jahren eingestellt, zogen sie aus riesigen Hängeregistraturen, die sie spöttisch „Eiserner Otto“ tauften. Man muss sich das ja klarmachen: Sie sollten 50 Jahre zurückgehen, damals gab es noch nicht einmal Computer!

1,2 Millionen Aktenseiten, fast 1500 ungeklärte Fälle

Fast 1500 Cold Cases aus dem ganzen Land nahm die BAO zunächst in Augenschein. Die Beamten, die nun „Regierungsbeschäftigte“ waren, „frästen“ sich, sagt Nierenz, durch 1,2 Millionen oft staubige Seiten. Weniges war tatsächlich nicht mehr brauchbar, anderes schon eingetroffen in einer Datenbank für Cold Cases, die das Land seit kurzem führt. Der große Rest: keine gut lesbaren Drucksachen, sondern doppelt beschriebene Seiten auf billigem dünnem Papier, die sie scannen mussten, digitalisieren und entziffern. An abenteuerliche Handschriften von Staatsanwälten erinnert sich einer. Und dann die handfesten Spuren, Haare, Fasern, Sekrete, abgelegt bloß in einfachen Tüten und durch die lange Lagerung teils verändert.

Chef der ersten „Cold Cases“-Truppe beim Landeskriminalamt: Colin B. Nierenz, inzwischen stellvertretender Leiter der Kripo Düsseldorf.
Chef der ersten „Cold Cases“-Truppe beim Landeskriminalamt: Colin B. Nierenz, inzwischen stellvertretender Leiter der Kripo Düsseldorf. © Polizei NRW | Polizei NRW

Sie fingen an damit, sie neu zu verpacken, die Daten zu erhalten für die Zukunft. „Keine Akte wird mehr im Keller verschwinden“, versprach LKA-Leiter Wünsch nach getaner Tat. Und dann lasen sie, verglichen, entdeckten Ungereimtheiten, stellten neue Fragen. Nicht jeder der Pensionäre mag den Namen „Rentner-Cop“, manche bezeichneten sich lieber als „Fallanalytiker“ oder als „Senior-Experts“, weil das wertschätzender sei. Aber niemals wollten sie Kritiker ihrer Kollegen sein: „Wir suchen nicht nach alten Fehlern“, das war der Grundsatz von Colin B. Nierenz, „sondern nach neuen Chancen.“

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Jeder verliert Hautschuppen, immer und überall

Einer, der dabei war, erzählte danach: Es sei gewesen, „als wenn Ermittler quasi in einer Zeitkapsel zurück in das Jahr der Tat reisen, aber bewaffnet mit dem kriminaltechnischen Besteck von 2023“. Denn die Kriminaltechnik, sagt Nierenz, „entwickelt sich immer weiter“. Zwar wird jede Leiche seit Mitte der 70er-Jahre mit Folie abgeklebt, ebenso wie Tatort oder -waffe. 200 bis 300 solcher Streifen sollen Spuren sichern. Aber früher bewahrte man so Fasern auf, etwa den Wollfaden eines Strickpullovers; heute kann man auf den Folien Hautschuppen identifizieren, wie jeder sie sekündlich und überall verliert. Dem Mörder von Nicole-Denise Schalla (16) aus Dortmund etwa wurde mehr als 25 Jahre nach der Tat eine Hautschuppe zum Verhängnis, der Mann ist verurteilt. Auch Fingerabdrücke, die einst unter dem Mikroskop betrachtet wurden, lassen sich heute abgleichen mit solchen in ganz Europa, in der ganzen Welt.

Und dann die Gentechnik: In den meisten zuletzt geklärten Fällen brachte DNA den entscheidenden Erfolg – gefunden am Tatort oder an der Leiche, für die es nun plötzlich einen Treffer in der Datenbank gab. Nicht immer weiß die Polizei sofort, zur welcher Person Fingerabdrücke oder DNA passen. Möglicherweise aber ist er oder sie inzwischen wegen einer anderen Sache in einer Datei. Oder, sagt Kriminaldirektor Nierenz: „Man muss einen alten Verdächtigen noch mal suchen und seine Spuren abgleichen.“

Der Polizeibeamte a.D. Michael Detscher kann einen Erfolg melden: Gemeinsam mit der Staatsanwaltschaft Duisburg und der Essener Ermittlungsgruppe Cold Cases hat er einen Tatverdächtigen ermittelt und festgenommen.
Der Polizeibeamte a.D. Michael Detscher kann einen Erfolg melden: Gemeinsam mit der Staatsanwaltschaft Duisburg und der Essener Ermittlungsgruppe Cold Cases hat er einen Tatverdächtigen ermittelt und festgenommen. © dpa | Christoph Reichwein

Minister lobt die „alten Hasen“ für Neugier und Tatendrang

So rasant ist der Fortschritt, dass selbst eben erst ausgeschiedene Pensionäre staunten. Länger als fünf Jahre durften sie ohnehin noch nicht in Rente sein, sonst wäre die Wissenslücke zu groß gewesen. Keiner stöberte in einem Fall, der ihn in seiner aktiven Laufbahn schon beschäftigt hatte, keiner nahm Akten in die Hand, die er schon kannte: Der Innenminister wollte den „frischen Blick“, gepaart mit Zeit, um neue Ermittlungsansätze zu finden. „Die langjährige Berufserfahrung ist wichtig“, erklärte Herbert Reul und lobte die „alten Hasen“ für „endlosen Tatendrang und jugendliche Neugier“.

Die Bilanz dieser „Alten“: 1010 Altfälle erwiesen sich als „interessant“, 708 landeten in der Datenbank. 493 neue Ansätze haben sich ergeben, 13 sind inzwischen „kriminalpolizeilich geklärt“. Was nicht heißt, dass die Gerichte immer mitgingen: In fünf Fällen wurde ein Mörder doch noch verurteilt, fünf Verfahren laufen. Aber drei Beschuldigte wurden von Schwurgerichtskammern freigesprochen. Das mache die Polizei, sagt Colin B. Nierenz, „manchmal innerlich betroffen“. Aber natürlich akzeptiere man die Gewaltenteilung und den alten Spruch: „In dubio pro reo“, im Zweifel für den Angeklagten.

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Und die Arbeit ist noch nicht vorbei. „493 neue Ansätze“ bedeuten auch, dass weiter ermittelt wird. Inzwischen in den zuständigen Polizeipräsidien, wo sich die örtliche Kripo über die Cold Cases beugt. Und zuletzt fast wöchentlich neue Erfolge meldete: Der mutmaßliche Mörder von Josef M. (✝67) aus Bergkamen – festgenommen nach beinahe 38 Jahren. Der Mordfall Günter K. (✝63) aus Mülheim – aufgeklärt nach 33 Jahren. Und der brutale Tod von Heike K. (✝28) in Dortmund – hier sitzen gleich zwei mutmaßliche Täter ebenfalls nach 33 Jahren in Haft.

„Wir hören nicht auf“, sagt Colin B. Nierenz, und das gilt auch für die Rentner-Cops: Etwa in Essen und Dortmund arbeiten weiterhin pensionierte Polizisten an der Aufklärung alter Fälle mit. Die Motivation ist hoch, viele können das Spurensuchen nicht lassen. Oder fühlen sich betroffen, wie in Dortmund ein 64-Jähriger, den der ungeklärte Tod eines Elfjährigen 1986 auch deshalb nicht ruhen lässt, weil er an seine eigenen Enkelkinder denken muss.

Bei der Polizei kennen sie „die großen Leidensgeschichten“ der Hinterbliebenen, sagt Nierenz: „Wenn jemand nicht weiß, warum“ einer seiner Liebsten sterben musste. Wie viele haben die Kripoleute besuchen müssen, bei denen ein Mitglied der Familie – Nierenz schnipst mit den Fingern – „plötzlich und unerwartet, von einer Sekunde auf die andere stirbt“. Getötet von einem anderen Menschen, „ein unglaubliches Unrecht“.

Auch sein mutmaßlicher Mörder ist nun dingfest gemacht: Josef M. aus  Bergkamen wurde 1986 getötet
Auch sein mutmaßlicher Mörder ist nun dingfest gemacht: Josef M. aus Bergkamen wurde 1986 getötet © Polizei Dortmund | Polizei Dortmund

Angehörige leben mit Riesen-Ungewissheit

Nierenz weiß, wie diese Angehörigen kreisen um immer dieselben Fragen. Hatte sie oder er Konflikte, etwas falsch gemacht? War es Mordlust oder ging es um Sex? „Da gibt es eine Riesen-Ungewissheit.“ Manche ziehen fort, andere pflegen daheim eine Erinnerungsecke, viele gehen täglich zum Grab. Diese Menschen bekommen ihre Lieben nicht zurück, aber was die Ermittler geben können, ist Gewissheit. Angehörigen nach langer Zeit sagen zu können: Wer hat das warum gemacht, sei, sagt Nierenz, „unser Auftrag als Polizei, den wir spüren“.

Und wie sie dann reagieren! „Wenn Sie jemandem in die Augen sehen und sagen, wir wissen es jetzt – das vergessen Sie nicht.“ Fassungslosigkeit hat Colin B. Nierenz erfahren, große Rührung, Dankbarkeit vor allem: „Dafür, dass wir es geschafft und nicht aufgegeben haben.“ Dass hingegen jemand die Antwort nicht wissen wollte, hat er noch nie erlebt.

Und wie viele Menschen haben angerufen bei der Kripo, seit sie von den Cold Cases hörten: Ob auch ihr „Fall“ dabei sei? Ob sie hoffen dürften? Die Polizei aber verrät nichts, so lange sie ermittelt. Sie kommt erst, wenn sie sich sicher ist, und dann auch zu den Verdächtigen. Die, ist zu hören, leugnen immer. „Ich habe damit nichts zu tun.“ Und doch gibt es Beweise, nach Jahrzehnten noch. „Auch wenn die Verbrechen noch so lange her sind“, sagt Minister Reul, „keiner sollte sich in Sicherheit wähnen.“ LKA-Chef Ingo Wünsch hat es den Tätern damals angedroht: „Irgendwann stehen wir vor Ihrer Tür.“