Düsseldorf. Eigentlich sind sie bereits in Rente. Warum 28 Mordermittler jetzt trotzdem wieder versuchen, ungelöste Fälle aufzuklären

Sie sind 27 Männer und eine Frau. Ehemalige Mordermittler, Kommissariatsleiter, Vermisstensachbearbeiter, Experten aus der Kriminaltechnik. Alle in Rente, Pensionäre. Innenminister Herbert Reul (CDU) aber nennt sie Pioniere, in Krimiserien werden sie gerne als „Profiler“ bezeichnet, sie selbst sagen lieber „Fallanalytiker“. Weil sie noch einmal zurückkehrt sind in ihren Beruf, um alte Fälle zu lösen. 1000 Jahre Erfahrung im Kampf gegen das Verbrechen. „Wahnsinn“ sagt Reul.

Über 1000 alte Fälle ohne eine heiße Spur

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Arbeit gibt es genug für die neuen alten Mitarbeiter der Besonderen Aufbauorganisation (BAO), wie die auf zwölf Monate begrenzte Sonderabteilung des Landeskriminalamtes (LKA) im Polizeijargon genannt wird. Von 1100 Fällen spricht der Erste Kriminalhauptkommissar Andreas Müller, Leiter des Sachgebietes „operative Fallanalyse“ im LKA. „Cold Cases“ sind sie allesamt – Fälle ohne heiße Spur, teilweise bis zu 50 Jahre alt.

Andreas Müller (l-r), Leiter Operative Fallanalyse, LKA, erklärt Innenminister Herbert Reul (CDU) einem Infotafel mit
Andreas Müller (l-r), Leiter Operative Fallanalyse, LKA, erklärt Innenminister Herbert Reul (CDU) einem Infotafel mit "Cold-Case" Statistik. Rechts im Bild Ingo Wünsch, Direktor Landeskriminalamt Nordrhein Westfalen. © dpa | David Young

Die Akten dazu haben Behörden im ganzen Land auf Müllers Initiative hin ans LKA geschickt. Dort werden sie schon seit einiger Zeit mit Tatzeit, Tatort, Opfer, Alter, Motivlagen und Spuren erst einmal digitalisiert. So kann viel einfacher darauf zugegriffen werden. Schon länger arbeitet Müllers Team - unterstützt von einem dicht geknüpften Netzwerk aus Technikern, Sprengstoffexperten, IT-Spezialisten, Psychologen und Naturwissenschaftlern – an alten, ungelösten Fällen. Nun kommen die Senioren-Fahnder zur Unterstützung hinzu. Hätte man nicht einfach mehr Personal einstellen können?

Berufserfahrung ist wichtig

„Nein“, sagt Kriminaldirektor Colin B. Nierenz, Leiter der BAO „Cold Cases“. „Die langjährige Berufserfahrung ist wichtig. Diese Arbeit kann nicht von Polizisten oder Angestellten geleistet werden, die noch keine Erfahrungen in diesen Bereichen haben.“

Die 28 Senioren haben sie nach 30 Jahren und mehr im Polizeidienst. Trotzdem sind sie sich nicht zu schade, Akten zu wälzen, Heftklammern zu lösen und Dokumente einzuscannen. Aber sie hinterfragen auch die Sachverhalte, die sie lesen. Ziel ist es, neue Erkenntnisse zu gewinnen, mit denen auch nach nach langer Zeit der Tathergang rekonstruiert oder der Kreis der potenziellen Täter möglicherweise eingeschränkt werden kann.

„Suchen nicht nach alten Fehlern, sondern nach neuen Chancen“

Auf eines aber legt Müller dabei er Wert. „Wir suchen nicht nach alten Fehlern, sondern nach neuen Chancen.“ Die gibt es Dank des enormen Fortschritts, den die Kriminaltechnik gemacht hat. Vor Jahrzehnten gesicherte Fingerabdrücke oder Speichelproben lassen sich heute ganz anders auswerten als früher. „Ich konnte kaum glauben, was sich alleine seit der Zeit meiner Pensionierung vor drei Jahren im Bereich der Fingerabdrücke getan hat“, bestätigt Berthold Kunkel, ehemaliger Leiter des Kriminalkommissariats 11 in Gelsenkirchen, nach dem kurzen Auffrischungskurs, den die Wiedereinsteiger absolvieren müssen.

Im Landeskriminalamt laufen die Fäden zusammen.
Im Landeskriminalamt laufen die Fäden zusammen. © picture alliance/dpa | Federico Gambarini

Aber auch abseits der klassischen Spuren wird nachgehakt. Ist der Fall lückenlos rekonstruiert? Gibt es ähnliche Fälle, zu denen bisher niemand eine Verbindung geknüpft hat? Lassen sich Aussagen von Zeugen im Rückblick anders bewerten? Manchmal, sagt Müller, müsse man nur eine Hypothese aus den Ermittlungen herausnehmen und man komme zu ganz neuen Theorien.

Ergeben sich neue Ansätze, übernimmt die Kripo vor Ort

„Unser Grundsatz ist es, dass niemand dort seinen Dienst versieht, wo er früher schon einmal gearbeitet hat“, sagt der Fallanalytiker. „Die Sachverhalte sollen mit einem unvoreingenommenen, neuen Blick betrachtet werden.“ Ergeben sich neue Ermittlungsansätze, übernimmt die örtlich zuständige Kripo.

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Welche Fälle gerade in Bearbeitung sind, verrät das LKA nicht. In Frage kommen würde etwa das bis heute ungeklärte Verschwinden des damals 21-Jährigen Pierre Pahlke aus Essen. Oder eine seit Juni 2010 vermisste Polizistin aus Gelsenkirchen. Die Polizei verdächtigt den Ehemann, doch trotz intensiver Ermittlungen und mehrerer Suchaktionen gibt es laut Staatsanwaltschaft keine Beweise dafür, dass die Frau umgebracht wurde.

„Mord verjährt ja nicht“

„Der Fall muss Potenzial haben“, erklärt Müller nur. Und je höher die Chance auf Aufklärung, je niedriger der Aufwand, desto eher sagen die Profiler und zuständigen Mordermittler: „Versuchen wir es.“ Auch Kunkel verrät nur, dass er sich bisher zu zwei Fällen „die Ermittlungsakten durchgelesen und entsprechende Gedanken beziehungsweise Notizen gemacht“ hat. Und dass er sich voll auf diese Arbeit konzentrieren kann. Das kennt er nicht aus seiner regulären Dienstzeit. Denn Cold Cases müssen sowohl im LKA als auch vor Ort neben dem Tagesgeschäft bearbeitet werden.

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Hunderte gelöste Altfälle über Nacht wird es dennoch nicht geben. Abgesehen davon, dass mögliche Angehörige gerne Gewissheit oder Gerechtigkeit hätten, besteht aber auch kein Grund zur Eile. „Mord“, erinnert Nierenz an ein altes Rechtsprinzip, „verjährt ja nicht.“