Krefeld. Die Bevölkerung hat mit Notlagen kaum Erfahrung. Wie man sich dann hilft, wird auch den Kleinen beigebracht. Aber es gibt ein Problem.

Stellen wir uns vor, es fällt ein Kind vom Klettergerüst und blutet am Kopf! Was tun? „Helfen!“, ruft die Tigergruppe einer Kita in Krefeld im Chor. Wie man das aber macht, da haben 15 Kinder 15 Ideen: von „Mama rufen“ bis „ins Bett legen und ausruhen, bis der Krankenwagen kommt“. Bloß ist die Mama nicht in der Kita und der Krankenwagen auch nicht, jedenfalls nicht von allein. Deshalb lernen die kleinen Tiger heute selbst „Erste Hilfe mit Selbstschutzinhalten“; am Ende werden sie alle Mini-Sanitäter sein.

Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe wird nicht an das Klettergerüst gedacht haben, als es solche „EHSH“-Kurse erfand. Und auch nicht an Benny, den Biber, den die Krefelder Kinder an diesem Morgen in Rettungsfolie verpacken wie ein riesiges Paket. Aber die Behörde hatte schon vor Jahren vor Augen, was sich beim Hochwasser 2021 und nach Ausbruch des Ukrainekrieges bestätigte: Den professionellen Hilfskräften von Polizei, Feuerwehr, technischem Hilfswerk oder Sanitätsdiensten „steht eine Bevölkerung gegenüber, die mit der Bewältigung von größeren Notfällen, Katastrophen ... kaum Erfahrungen hat“.

Der arme Benny hat sich verletzt! Linus, Maissa und Johanna verarzten „Benny“, den Biber, und hören seine Herztöne ab.
Der arme Benny hat sich verletzt! Linus, Maissa und Johanna verarzten „Benny“, den Biber, und hören seine Herztöne ab. © FUNKE Foto Services | Fabian Strauch

Vier Millionen im Jahr, aber Budgets sind ausgeschöpft

Was in ehrlichem Deutsch heißt, die Leute können es nicht. Also beschloss die Politik, ihnen beizubringen, was die Menschen in langen Friedenszeiten offenbar verlernt haben: sich und anderen „im Zivilschutzfall und auch in außergewöhnlichen Notlagen“ selbst zu helfen. Vier Millionen Euro gibt das Bundesinnenministerium pro Jahr dafür aus, zu wenig, klagen die Hilfsorganisationen. Weil auch die EHSH-Kurse teurer geworden sind, mussten Rotes Kreuz, Arbeiter-Samariter-Bund (ASB), DLRG, Johanniter und Malteser schon im April knapsen – das Budget ist bereits im Frühling erschöpft. Dabei sei die Nachfrage groß, sagt etwa die Johanniter Unfallhilfe: Der Bedarf wachse, aber effektiv könnten „immer weniger Menschen erreicht werden“.

Wo noch Geld übrig ist, fangen die Helfer klein an, im wahren Wortsinn: In Krefeld sucht eine Mitarbeiterin des ASB mit den Vorschulkindern gerade gefährliche Stellen in der Turnhalle. Aber was bedeutet überhaupt „gefährlich“? Wenn ein Zombie kommt und alle kneift, findet ein Fünfjähriger. Das wäre nun wirklich eine Katastrophe, aber nicht sehr wahrscheinlich. Wo könnte man sich also verletzen in einer Kita, wenn man kein Vogel ist oder ein Fisch, der sich „im Netz verheddert“? Das Fenster, klar, da könnte man rausfallen, wenn es nicht ebenerdig wäre. Die große Turnmatte könnte umstürzen. Die Heizung zu heiß sein, was man allerdings nicht erst merken muss, wenn man draufpatscht.

Die Tür könnte zufallen, „dann sind wir da für immer drin“! Realistischer aber wäre, der Finger wäre eingeklemmt, „der könnte zerquetscht werden, und die Knochen gehen kaputt“. (Man unterschätzt bisweilen die Fantasie von Kindern – oder ihren Medienkonsum.) Also „Türknallen ist keine Lösung, wenn ich sauer bin“. Aber auch die Steckdosen bekommen von Emil, Selena, Johanna einen roten Klebepunkt für „Achtung Gefahr!“. Darf man die Nase in die Steckdose stecken? Einen Stift? Pommes? Rebecca Gefertz vom ASB denkt sich immer wildere Sachen aus, so werden die Kinder wach. Empörtes „Nein!“ schallt durch den Raum, es wird gekichert. Aber der Stecker, der darf natürlich rein.

Autsch, das tut weh. Aber mit dem Trickpflaster, oder auch Zauberpflaster, lassen sich kleine Wunden einfach versorgen.
Autsch, das tut weh. Aber mit dem Trickpflaster, oder auch Zauberpflaster, lassen sich kleine Wunden einfach versorgen. © FUNKE Foto Services | Fabian Strauch

Zwei Daumen, eine Faust – das ergibt den Notruf 112

Die Fünf- und Sechsjährigen in ihren rosa und blauen Kunststoffpantoffeln kleben Pflaster auf nicht vorhandene Wunden und spielen den Anruf beim Krankenwagen durch (das unbekannte Opfer liegt ja immer noch unter der Kletterstange). Wie ruft man an? „Mit dem Handy!“ Okay, also wo? 112 kann man sich prima merken: Zwei Daumen hoch, eine Faust. Oder „eine Nase, ein Mund, zwei Augen“. Und was sagt man da? „Euer Lieblingseis?“ Haha, aber so richtig kommen die Kinder nicht drauf. Es hilft auch nicht, ihnen mit den W-Fragen zu kommen, Wo, Wer, Wie viele, Warum – „für die Schürfwunde am Knie brauchen wir keinen Rettungsdienst“. Es kann hier ja noch keiner lesen.

Am Ende haben sie doch alles durchgegeben am ausgedachten Telefon und versorgen den Verletzten, bis der Arzt kommt. Benny, fast so groß wie die Kinder, sieht von vorn aus wie ein Bär, von hinten ist er aber Biber. Das Stofftier wird in eine goldene Rettungsdecke gewickelt, an seine Seite kommt eine Wurst, damit man die „Alufolie“ unter ihm durchziehen kann. Ein Mädchen naht mit dem Stethoskop, das kennt außer der Tochter eines Kinderarztes hier niemand, oder nur so: „Damit kann man gucken, ob das Herz noch geht oder nicht.“

Wer weiß, was gefährlich ist? Die Turnmatte hinter Verena Gerfertz vom ASB zum Beispiel. Was, wenn die umfällt?
Wer weiß, was gefährlich ist? Die Turnmatte hinter Verena Gerfertz vom ASB zum Beispiel. Was, wenn die umfällt? © FUNKE Foto Services | Fabian Strauch

Auch Kinder können im Notfall schon trösten

Das von Benny ist noch nie gegangen, also hören die Kinder einander ab und sind alle quicklebendig, zum Glück. „Wir wollen die Kinder bestärken“, sagt Rebecca Gerfertz, „dass sie selbst schon helfen können.“ Es geht um Berührungsängste, die sich bis ins Erwachsenenalter fortsetzten; gerade bei jenen, die Erste Hilfe allenfalls für den Führerschein gelernt haben – und danach vergessen. Im EHSH-Kurs lernen Kinder zudem, wie gar nicht erst etwas passiert, wie sie selbst sicher sind. Auch für Jugendliche gibt es solche Seminare, für Pflegende, speziell für alte Menschen: damit sie sich „im Zivilschutzfall und auch in außergewöhnlichen Notlagen“ selbst stärken können.

Auf der Urkunde für die „Mini-Sanitäter“ steht, dass sie jetzt auf sich selbst und andere aufpassen können, Hilfe holen und im letzten Punkt: „Psychische Erste Hilfe/Betreuung“. Die kleinen Leute werden das noch nicht verstehen, aber sie haben es selbst so vorgeschlagen: Ein Taschentuch ist „total wichtig“, wenn einer hingefallen ist, man muss nämlich unbedingt trösten! Nicht nur in der Tigergruppe, auch Erwachsene.

>>INFO: SICHERHEIT UND ERSTE HILFE IN NOTLAGEN

Die „Ausbildungskurse für die Bevölkerung in Erster Hilfe mit Selbstschutzinhalten (EHSH)“ werden laut Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) kostenfrei angeboten. Die Behörde ist gesetzlich dafür zuständig, „die Bevölkerung im Verteidigungsfall zu schützen“ und sie darauf vorzubereiten. Die Nachfrage ist allerdings so hoch, dass die Gelder für 2024 bereits im Frühjahr ausgegeben sind. Der Arbeiter-Samariter-Bund in Düsseldorf bietet die Kurse weiterhin an, versucht sie aber aus Spendenmitteln und durch Elternbeiträge zu bezahlen.

Andere Hilfsorganisationen müssen auf den Unterricht bereits jetzt verzichten. Für die kommenden Haushaltsjahre streben sie gemeinsam eine Budget-Erhöhung an, aber schon für den Bewilligungszeitraum 2020 bis 2024 bekam etwa die Johanniter-Unfallhilfe (JUH) weniger als die Hälfte der für EHSH-Seminare beantragten Summe. Trotzdem wurde das Ziel, jährlich fast 100.000 Menschen zu schulen, laut JUH erreicht.

Kurse, die noch stattfinden, folgen einem Modulsystem: Sicherheit für Kinder, Vorbeugung und Reaktion in Notlagen für junge und alte Menschen, Medizinische Erstversorgung, Betreuung von Hilfebedürftigen mit Pflegebedarf und mehr. Mehr Informationen: bbk.bund.de