Oberhausen. Können sogar Kinder im Kindergarten-Alter in einem akuten Notfall helfen? Fachleute bieten jedenfalls ein Erste-Hilfe-Training für Kleine an.

Wie war das noch mit der Ersten Hilfe? Stabile Seitenlage, Kopfverband. . . Selbst die meisten Erwachsenen erinnern sich nur dunkel an das genaue Vorgehen in Notfällen. Wie sollten dann Kinder erst richtig reagieren?

Das Berliner Unternehmen Pflasterpass glaubt, dass schon Vierjährige in der Lage sind, die einfachsten Grundlagen der Ersten Hilfe zu erlernen. Man müsse diese nur kindgerecht vermitteln. Hierfür haben Fachleute einen Kurs entwickelt, an dessen Ende es eine Auszeichnung in Bronze, Silber oder Gold gibt. Das evangelische Familienzentrum Karibu Sana am Stubbenbaum in Oberhausen hat die Idee ausprobiert.

Mamas und Papas Handy sind im Notfall nicht tabu: Stefanie Floegel zeigt den Kindern, wie sie die 112 wählen können, auch wenn das Telefon gesperrt ist.
Mamas und Papas Handy sind im Notfall nicht tabu: Stefanie Floegel zeigt den Kindern, wie sie die 112 wählen können, auch wenn das Telefon gesperrt ist. © FUNKE Foto Services | Gerd Wallhorn

Das kleine Igelchen möchte so gerne am Tannenzapfen-Weitwurf-Wettbewerb teilnehmen. Deshalb sucht es im Wald nach einem richtig schönen Exemplar. Doch Igelchen stolpert und liegt nun verletzt im Gras. Die sieben Kinder, die im Turnraum der Kita auf dem Boden sitzen, schauen gespannt auf die Bilder, die Kursleiterin Stefanie Floegel im Kamishibai, einem Bildertheater japanischer Art, zeigt.

„Was soll das Igelchen nun tun?“, fragt sie in die Runde, in der auch Mütter und Väter dabei sind. Sie sollen für die nötige Sicherheit sorgen, falls eines der Kinder auf Themen wie Schmerz, Verletzungen und Krankenwagen sensibel reagiert. „Hilfe, Hilfe ruft das Igelchen“, erzählt Stefanie Floegel weiter. „Was noch?“ Die Antwort kommt wie aus einem Munde: „Den Krankenwagen rufen!“

Fürsorgliche Kita-Kinder: Hilfsbereitschaft liegt in der Natur

Vier bis sieben Jahre alt sind die Kinder, die an diesem Weiberfastnachtstag zum Erste-Hilfe-Kurs ins Karibu Sana gekommen sind. Einige der verkleideten Mini-Jecken besuchen die Kita, andere sind schon in der Schule. Sie wirken alle aufgeschlossen für das Thema Erste Hilfe, eher neugierig als ängstlich. Vielleicht sollte man ihnen wirklich mehr zutrauen?

Auf jeden Fall, meint Andrea Przybylek, die Leiterin des evangelischen Familienzentrums. „Kinder helfen gerne“, beobachte sie immer wieder. „Es gibt ja viele Situationen in der Kita, in denen etwas passiert. Wenn jemand hinfällt zum Beispiel.“ Besonders die Älteren seien in solchen Fällen sehr fürsorglich und aufmerksam mit jüngeren Kindern. Deshalb, meint Andrea Przybylek, sei es wichtig für Kinder, „zu lernen, dass sie helfen können“.

„Eins, eins, zwei, ruf die Rettung herbei“: Stefanie Floegel bringt den Kindern und Eltern im Pflasterpass-Kurs im evangelischen Familienzentrum „Karibu Sana“ einen Merkspruch für den Notruf bei.
„Eins, eins, zwei, ruf die Rettung herbei“: Stefanie Floegel bringt den Kindern und Eltern im Pflasterpass-Kurs im evangelischen Familienzentrum „Karibu Sana“ einen Merkspruch für den Notruf bei. © FUNKE Foto Services | Gerd Wallhorn

Das Igelchen liegt immer noch hilflos im Wald und Stefanie Floegel übt gerade einen Merksatz mit den Kindern – und Eltern! – für die Notrufnummer: „Eins“, ein Daumen wird nach oben gestreckt, „Eins“, der andere auch, „Zwei“, beide Daumen berühren sich, „Ruf die Rettung herbei.“ Es könne jedem passieren, erzählt Floegel, dass er diese drei Ziffern einfach nicht mehr abrufen kann. Blockade im Kopf – das habe sie selbst schon einmal in einer Notsituation so erlebt.

Hilfe für das verletzte Igelchen: „Trösten ist auch Erste Hilfe“

Die Eule holt Hilfe für das Igelchen, das Luchsmädchen und der Dachs eilen herbei, um zu sehen, was ihm fehlt. „Auch Trösten ist Erste Hilfe“, erklärt Stefanie Floegel ihren kleinen Kursteilnehmern. In den Arm genommen und gestreichelt werden, das kennen sie alle. „Oder man spielt etwas zusammen im Sitzen, wenn der andere nicht laufen kann“, schlägt Floegel vor.

Andrea Przybylek, Leiterin des evangelischen Familienzentrums, beobachtet immer wieder, dass Kinder gerne helfen.
Andrea Przybylek, Leiterin des evangelischen Familienzentrums, beobachtet immer wieder, dass Kinder gerne helfen. © FUNKE Foto Services | Gerd Wallhorn

Jetzt kommt der Erste-Hilfe-Koffer zum Einsatz. Handschuhe, Pflaster, Verband. Dinge, die Kinder magisch anziehen und die sie auch von Doktorspielen kennen. Jetzt dürfen sie Mama oder Papa verbinden und imaginäre Wunden versorgen. „Nicht auf das Weiße am Pflaster fassen“, werden sie ermahnt. Die Kleinen wissen dank Corona genau, warum: „Wegen der Bakterien.“ Mit ernsten Minchen arbeiten sie sich voran. Die vierjährige Maja übt an Mamas Arm. „Sie macht zu Hause auch gerne überall ein Pflaster dran“, erzählt ihr Vater Michael Wolff. Und Maja liebe Arztgeschichten. Vanessa Gebhardt wird von ihrem Sohn Beorn (5) verbunden. „Ich glaub, gleich wird bei uns alles zugetackert“, sagt sie lachend. Beorn spiele gerne Doktor. Patientin ist dann immer seine kleine Schwester.

Schlechte Erfahrungen mit Ärzten führen zu großen Ängsten

Bei den Eltern kommt der Kurs gut an. Als Stefanie Floegel den Kindern zeigt, wie sie auf Mama und Papas Handy den Notruf wählen können, ohne es entriegeln zu müssen, erzählen viele, dass sie das schon längst mit den Kindern geübt hätten. Stefanie Floegel verteilt zum Abschluss die kleinen Pflasterpass-Heftchen. Sie sehen aus wie Impfausweise und weisen aus, ob das Kind den Bronzekurs (Kita), Silberkurs (Vorschule) oder Goldkurs (Grundschule) besucht hat.

Kein Aua, aber trotzdem ein Pflaster drauf: Der Erste-Hilfe-Kurs im evangelischen Familienzentrum „Karibu Sana“ in Oberhausen hat der kleinen Marlene Spaß gemacht.
Kein Aua, aber trotzdem ein Pflaster drauf: Der Erste-Hilfe-Kurs im evangelischen Familienzentrum „Karibu Sana“ in Oberhausen hat der kleinen Marlene Spaß gemacht. © FUNKE Foto Services | Gerd Wallhorn

„Man kann gar nicht früh genug anfangen“, findet Stefanie Floegel, die als Heilpraktikerin für Psychotherapie oft mit Kindern zu tun habe, die aufgrund schlechter Erfahrungen Ängste vor Ärzten und Krankenhäusern entwickelt hätten. „Deshalb muss bei unseren Kursen auch immer ein Elternteil oder eine Erzieherin dabei sein.“ Sie wünscht sich, den Kleinen die Ängste nehmen zu können, ihnen einen leichten, intuitiven Zugang zum Kranksein zu verschaffen. „Dann bekommen wir vielleicht andere Erwachsene. Solche, die im Notfall helfen und nicht weitergehen, weil sie Angst haben, etwas falsch zu machen.“

Igelchen geht es übrigens am Ende der Geschichte wieder gut. Es kann zwar nicht am Tannenzapfen-Weitwurf teilnehmen, aber seine Freunde haben sich etwas einfallen lassen: Igelchen wird zum Schiedsrichter ernannt und kann so trotzdem dabei sein.