Essen. Matthias Horx sieht die Welt in einer „Omnikrise“, die sechs Bereiche unserer Gesellschaft umfasst. Zum Weg hinaus brauchen wir langen Atem.
Krieg, Pandemie, Klimawandel, Inflation, Unruhen und Angst vor künstlicher Intelligenz: Unsere Gesellschaft steckt offenbar in einer Dauerkrise, die vom Zukunftsforscher Matthias Horx nun zur „Omnikrise“ erklärt wurde. Abgeleitet vom lateinischen Begriff „omni“ (alles) bedeutet dieser Begriff vor allem, dass wir es nicht nur mit mehreren Krisenherden gleichzeitig zu tun haben, sondern dass die einzelnen Krisenbereiche einander beeinflussen und teils sogar noch verstärken. Georg Howahl sprach mit ihm darüber, wie wir mit solchen Krisen umgehen sollten - und ob es Wege hinaus gibt.
Herr Horx, der Begriff „Omnikrise“ ist ja eine Neuschöpfung. Inwieweit unterscheidet sie sich von den Krisen, die wir noch vor einigen Jahren zu bewältigen hatten?
Horx: Wenn wir an die Finanzkrise oder die Eurokrise denken: Solche Phänomene kamen und vergingen. Das waren solitäre Krisen, die nicht das Gesamtsystem beeinflusst haben. Jetzt haben wir zum ersten Mal das Gefühl, dass alles zusammenkommt – als eine große Welle, die über uns zusammenschlägt und alle Bereiche unserer Gesellschaft beeinflusst. Das ist die Omnikrise. Betrachtet man die dahinter liegenden Wandlungsprozesse, zeigen sich verschiedene einzelne Krisenstränge. Wir haben zum einen eine Krise unserer fossilen Produktionsweisen, die immer deutlicher wird, siehe Global Warming. Wir haben auch eine Krise im Bereich der Arbeit, die eigentlich verblüffend ist: Viele Jahre und Jahrzehnte haben wir uns vor Massenarbeitslosigkeit gefürchtet, und jetzt erleben wir das genaue Gegenteil – Arbeitskräfteknappheit. Das verändert die Verhältnisse zwischen Kapital und Arbeit. Für all diese Dinge sollten wir versuchen, eine Sprache zu finden, die etwas nüchterner und auch gelassener ist. Eine Sprache, in der wir über solche Krisenphänomene sprechen können, aber uns nicht dauernd selber gegenseitig hysterisieren.
Sie beschreiben in ihrer Studie zur „Omnikrise“, dass es alle 50 bis 100 Jahre zu einem Zerfall des alten Normalzustands kommt, der anschließend zur Entstehung eines neuen Normalzustands führt. War der letzte große Epochenübergang der Zweite Weltkrieg?
Man kann sagen, dass nach dem Zweiten Weltkrieg eine Grundordnung und eben auch eine Produktionsordnung entstanden ist, die ganz stark auf den fossilen Brennstoffen aufgebaut war und uns einen sehr großen Wohlstand verschafft hat. Aber gleichzeitig hat sie natürlich enorme Folgeschäden verursacht. Die Weltordnung, die vor fast 80 Jahren entstanden ist, war sehr westlich und von Amerika geprägt, und diese Dominanz des westlichen Modells verändert sich jetzt. Wir sehen, dass die Globalisierung, so wie sie in den letzten 50 Jahren geblüht hat, nicht mehr weiter funktioniert – auch wenn sie vielen Staaten der Welt massive Wohlstandszugänge gebracht hat. Diese alte Ordnung gerät nun aus den Fugen. Das ist ja das grundlegende Lebensgefühl heute: Die Welt gerät aus den Fugen. Mit unserer Studie versuchen wir das zu erklären und zu illustrieren.
Wie lange könnte es dauern, bis man den Weg aus der „Omnikrise“ herausgefunden hat und zu einer Art neuer Normalität gefunden hat?
Da kann man nur zurückgreifen auf die Rhythmen der Geschichte. Manche Veränderungen laufen zwar manchmal auch beschleunigt ab, teils sogar heftig. Aber ein Epochenwandel tut dies aufgrund seiner Komplexität eben nicht. Da gibt es gewisse historische Konstanten. Die meisten dieser Übergangsturbulenz-Phasen haben eine Dauer von zehn bis 20 Jahren.
Das heißt, dass wir vorerst nicht aus dem Krisenmodus herauskommen und lernen müssen, möglichst resilient damit umzugehen?
Wir müssen den Krisenmodus als einen produktiven Modus verstehen. Zum ihm gehört zwar Auflösung der alten Zustände, aber in der Auflösung sind auch immer schon die Lösungen enthalten. Wir können ja sehen, dass wir die Arbeitswelt auch anders gestalten können, als wir es früher in der klassisch industriellen Zeit gemacht haben. Das entscheidende Problem ist unser Umgang mit Angst: Reagiert man auf hochkomplexe Phänomene mit Angst und Panik, macht man sie nur schlimmer. Angst ist ja eigentlich von der Natur für bestimmte Situationen erschaffen worden: Treffen wir auf das Raubtier, müssen wir entscheiden, ob wir kämpfen oder fliehen. Bei einer Omnikrise ist das aber natürlich schwierig. Deshalb ist der entscheidende Punkt etwas, das man vielleicht „Krisengelassenheit“ nennen könnte. Es ist ja nicht so, dass alles zusammenbricht – so erscheint es nur. Umso wichtiger ist es, das Stützende und Tragende zu verstärken. Und diesen Reflex gibt es ja auch in der Gesellschaft. Schauen Sie sich die Demonstrationen für Demokratie an! Man sieht: Wenn bestimmte Krisen sich verstärken, gibt es auch Widerstände und Gegenbewegungen. Darauf können wir setzen, das ist bereits Teil der Heilung. Ich bin mir sehr sicher, dass die ökologische Bewegung in einigen Jahren wieder richtig an Fahrt aufnehmen wird.
Und dass wir damit auch dem Klimawandel begegnen können?
Es gibt Zeiten, in denen man das Gefühl hat, dass es überhaupt nicht vorangeht. Aber das ändert sich schnell wieder, solange die Grundkonstante gleich bleibt. Und die Grundkonstante ist, dass wir sehr wohl ohne Öl und Gas auskommen können und auch ein Wohlstandsleben damit führen können. Ich wohne in einem Haus, das schon zwei Drittel seiner Energie selbst produziert. Und man ist immer ganz verblüfft, was damit alles geht. Man muss es nur von einer anderen Seite aus betrachten.
Sie appellieren also auch für einen Perspektivwechsel?
Das ist ja unsere Aufgabe als Zukunftsforschende. Wir möchten, dass mehr Menschen in der Lage sind, die Gegenwart von der Zukunft aus zu betrachten, also von den Lösungen her. Jetzt in der Krise fühlt man sich von den Problemen vielleicht überwältigt. Aber wenn man die Perspektive wechselt und die Situation von den Lösungen her betrachtet, sieht die Welt ganz anders aus. Dann weiß man auch, auf welcher Seite man stehen sollte und was der eigene Beitrag dazu sein kann.
Matthias Horx (69) hat lange am von ihm mitgegründeten Zukunftsinstitut im hessischen Kelkheim bei Frankfurt/Main gearbeitet, das auch eine Zweigstelle in Wien unterhält. Gemeinsam mit anderen Forschern gründete er im vergangenen Oktober den Think-Tank „The Future Project“ in Frankfurt, der sich vor allem mit Transformationsprozessen befasst. Die „Omnikrise“ (170 Seiten, 185 Euro) ist von der eben diesem „Future Project“ herausgegeben worden.