Düsseldorf/Hagen. Ministerpräsident Hendrik Wüst besucht die Region. Im Interview spricht er über die A 45, Flüchtlinge, Energie- wie Heizwende und Schul-Gewalt.
NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst reist am Mittwoch durch Südwestfalen. Im Interview spricht der CDU-Politiker über die Region und Probleme, die die Menschen auch andernorts berühren.
Am Sonntag Weltbühne bei der Karlspreis-Verleihung in Aachen, am Dienstag Staatspreis für Angela Merkel, am Mittwoch Tour durch Südwestfalen. Was bezwecken Sie mit Ihrem Besuch in der Provinz?
Einspruch: Ich besuche nicht irgendeine Provinz, sondern eines der wirtschaftlichen Kraftzentren unseres Landes mit herausragenden Industrie- und Technologiestandorten. Es ist wichtig, sich selbst und anderen immer wieder die Vielfalt Nordrhein-Westfalens vor Augen zu führen. Mein Besuch in Südwestfalen gibt mir die Möglichkeit, an einem Tag gleich mehrere Termine in nur einer Region zu absolvieren. So komme ich mit vielen verschiedenen Menschen intensiver ins Gespräch, als das sonst möglich ist – von Schülerinnen und Schülern und Feuerwehrleuten bis hin zu Unternehmern.
Welche Themen beschäftigen die Menschen in Südwestfalen aus Ihrer Sicht besonders?
Die großen Fragen sind im ganzen Land ähnlich. Die Menschen wollen wissen, wie man sich das ganz normale Leben noch leisten kann. Stichwort Verkehrsanbindung: Wie komme ich schnell und zu tragbaren Kosten zur Arbeit? Müssen wir uns bald wieder Sorgen um unsere Arbeitsplätze machen? Viele Familien fragen sich, welche Folgen der Klimaschutz für sie ganz persönlich hat, Stichwort Wärmewende. Deshalb besuche ich auch das Unternehmen Viega. Dort wird mit Innovationen und moderner Technik gezeigt, wie wir Nachhaltigkeit und die Energiewende im Gebäudebereich voranbringen können.
Eine ganz spezielle Sorge in Südwestfalen ist die gesperrte A 45.
Ja, das ist eine sehr große Belastung für die Region. Gut, dass die alte Brücke jetzt weg ist. Der Bund muss nun mit hohem Tempo daran arbeiten, die Lücke zu schließen.
Haben Sie daran Zweifel?
Die Praktiker vor Ort haben den Ehrgeiz, so schnell wie möglich fertig zu werden. Aber sie werden es nur dann schaffen, wenn der für die Autobahnen zuständige Bund ihnen alle dafür nötigen Ressourcen zur Verfügung stellt. Wir brauchen mehr Geschwindigkeit bei Planung und Genehmigung. Doch in der Debatte um den Bund-Länder-Pakt für Planungsbeschleunigung herrscht seit mehr als einem halben Jahr leider Stillstand, weil sich der Bund nicht rührt. Die Länder haben Vorschläge gemacht, was zu tun ist. Aber in der Ampel gibt es darüber noch immer Streit. Hier erwarte ich eine schnelle Einigung innerhalb der Bundesregierung, damit die Verhandlungen zum Pakt für Planungsbeschleunigung nun endlich zügig abgeschlossen werden können.
Sie waren Verkehrsminister, als die A 45 in der Priorisierung nach hinten geschoben wurde. Haben Sie ein reines Gewissen?
Heute wissen wir: Die Entscheidung von 2014, eine Verstärkung der Brücke zu verwerfen, also nicht durchzuführen, war ein Fehler. Diese Entscheidung aus 2014 ist leider während meiner Amtszeit als Verkehrsminister nicht geheilt worden. Bereits im Dezember 2021 hat die Autobahn Gesellschaft des Bundes ausgeführt, dass der Neubau der Brücke aufgrund der Prüfergebnisse nicht mit oberster Priorität behandelt wurde. Auch das war ein Fehler, wie wir heute wissen. Um Missverständnissen vorzubeugen, sage ich aber auch ganz klar: Die Fachleute haben ihre damaligen Einschätzungen vor dem Hintergrund ihres damaligen Wissens vorgenommen.
Persönliche Fehler von Ihnen?
Es sind an verschiedenen Stellen Fehler gemacht worden. Aber die Fachleute wären so nicht vorgegangen, wenn sie auch nur geahnt hätten, dass die Brücke einmal für den Verkehr gesperrt werden muss.
Also haben Sie keine Angst vor dem Parlamentarischen Untersuchungsausschuss.
Ich habe dem Verkehrsausschuss schon sehr ausgiebig Rede und Antwort gestanden, genauso wie die Leiterin der Autobahngesellschaft Westfalen das auch getan hat. Wir werden weiter die Fragen beantworten, die uns gestellt werden.
Haben Sie als Verkehrsminister Projekte bevorzugt, die in CDU-Wahlkreisen lagen?
Die politischen Entscheidungen werden bei den Rahmenbedingungen getroffen: die Bereitstellung von Mitteln, Personal und externen Planungskapazitäten. Grundlage für Entscheidungen über konkrete Verkehrsprojekte sind fachliche Einschätzungen.
Hat Ihre Landesregierung bisher genug getan, um die Region über die Durststrecke mit einer nach wie vor gesperrten A 45 zu bringen?
Das Allerwichtigste ist, dass der Neubau fertig wird. Die Landesregierung sieht es als ihre Aufgabe an, bis zum Neubau der Brücke alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um die Folgen für die Menschen in der Region so gering wie möglich zu halten. Diese Unterstützung reicht von mehr Polizeikräften zur Durchsetzung von Fahrverboten über ein verbessertes Angebot im Schienenpersonenverkehr für Pendler, Darlehn für die betroffenen Unternehmen über die NRW.Bank, die Verlagerung von Büroarbeitsplätzen mit dem Projekt Hub45 bis hin zur Unterstützung der Feuerwehr in Lüdenscheid, damit sie bei Notfällen zügig vor Ort sein kann. In allen Ressorts wird sehr genau geschaut, wie und wo wir helfen können.
Die Unternehmen vor Ort trifft es besonders hart, weil der Wirtschaftsstandort Deutschland insgesamt unter Druck steht.
Ja, das ist so. Unsere energieintensiven Betriebe sind in besonderer Weise betroffen. Deshalb ist es wichtig, dass die Politik aus dem Krisenmodus rauskommt. Wir sind gut über den letzten Winter gekommen, da hat die Bundesregierung nach großen Startschwierigkeiten wirklich einen guten Job gemacht. Aber jetzt muss es darum gehen, dass der Standort Deutschland wettbewerbsfähig bleibt, dass wir die Arbeitsplätze hier halten. Auch deshalb brauchen wir einen Industriestrompreis, der den Unternehmen Planungssicherheit bringt. Diese Forderung wird völlig zu Recht auch direkt aus der Region erhoben. Wir setzen uns gegenüber dem Bund für eine verlässliche und standortsichernde Lösung ein.
Am Ende muss der Steuerzahler dafür aufkommen, oder?
Die Staatsfinanzen sind unter Druck. Die Zeitenwende aufgrund des Kriegs in der Ukraine wirkt sich auf allen Ebenen aus, ob Bund, Länder oder Kommunen. Wir spüren das schwächere Wirtschaftswachstum auf der Steuerseite, und wir haben Steigerungen auf der Ausgabenseite. Alle staatlichen Instanzen sind herausgefordert zu fokussieren, sehr genau zu schauen, welche Ausgaben man in dieser Phase verschieben kann und welche man dennoch machen muss.
Nennen Sie doch mal drei Punkte, wo Sie in NRW Ausgaben verschieben können.
Die regionalisierte Steuerschätzung kam erst Ende letzter Woche. Die werden wir uns jetzt sehr genau anschauen und dann die Konsequenzen ziehen. Schulden zur Normalität zu machen ist jedenfalls keine Option, bei den aktuellen Zinsen erst recht nicht.
Der geplante Aufbau der Windenergie spaltet Südwestfalen. Der Streit wird auch sehr emotional geführt.
Ich kann diese Emotionen gut nachvollziehen. Auch in meiner Heimat Münsterland sind viele Windräder gebaut worden. Wenn ich die Anlagen aber heute sehe, dann gehören sie jetzt zum Landschaftsbild. Trotzdem wird es auch weiter Widerstände geben, denen wir nur mit Dialog und einer fairen Verteilung der Lasten begegnen können. Uns selbst und unsere Unternehmen sicher mit zunehmend sauberer Energie zu versorgen ist eine Aufgabe, an der alle gemeinsam mitwirken müssen.
In Meschede treffen Sie Mitglieder der Freiwilligen Feuerwehr. Vergangene Woche wurden Rettungskräfte in Ratingen angegriffen. Wie kann man sie besser schützen?
In Ratingen kämpfen Menschen noch um ihr Leben. Wir sind in Gedanken bei ihnen. Der Innenminister und ich nehmen das Thema sehr ernst. Wir tragen Verantwortung für diese Menschen. Einsatzkräfte, die als Repräsentanten des Gemeinwesens andere schützen, dürfen niemals die Adressaten für Frust, Wut oder gar Gewalt sein. Wenn Menschen in Uniform zum Blitzableiter für Hass und Aggression werden, läuft in unserer Gesellschaft etwas gehörig falsch.
Haben Sie konkrete Vorschläge zum Schutz der Einsatzkräfte?
Zunächst einmal müssen sie so ausgestattet werden, dass wir in der Lage sind, der Täter habhaft zu werden. Häufig werden Angriffe aus Gruppen heraus verübt, so wie in der letzten Silvesternacht. Das führt zu Schwierigkeiten in der Beweisführung. Also brauchen wir mehr Bodycams und Kameras an Drohnen oder an Einsatzfahrzeugen. Es muss völlig klar sein: Es gibt bei uns keinen Tag im Jahr, auch nicht den 31. Dezember, an dem wir Straftaten tolerieren. Der Staat muss wehrhaft bleiben und seine Einsatzkräfte schützen – rechtlich und technisch.
Die Gewalt an Schulen hat offenbar auch zugenommen.
Das macht mir große Sorgen. Noch wissen wir nicht, was diese Entwicklung begünstigt hat. Ist es die Digitalisierung, die die Verfügbarkeit auch von gewaltverherrlichenden Videos erleichtert. Ist es die Pandemie, die viele Kinder daran gehindert hat, in einer bestimmten Lebensphase, in der man das auch mal braucht, sich zu messen mit anderen und zu rangeln. An den Schulen werden gesellschaftliche Entwicklungen immer als Erstes und besonders deutlich sichtbar. Multiprofessionelle Teams mit Sozialarbeitern geben wichtige Unterstützung. Auf der anderen Seite können wir die Elternhäuser nicht aus der Verantwortung lassen. Schule darf nicht der Reparaturbetrieb sein für alles, was schiefläuft. Wenn wir das nicht verdeutlichen, dann verlieren wir die Lehrerinnen und Lehrer. Deswegen investieren wir ja so viel in den Bildungsbereich, insbesondere in die Grundschulen, wo wir die Lehrkräfte künftig bezahlen wie in der Oberstufe.
Schließen Sie aus, dass angesichts der angespannten Finanzlage bei der Bildung in NRW gespart wird?
Unsere Schulen haben für uns auch haushaltspolitisch absolute Priorität. Bei diesem Grundsatz bleibt es.
Nach dem Flüchtlingsgipfel mit dem Bundeskanzler sagten Sie: Mehr war nicht drin. Davon können sich die Kommunen nichts kaufen, oder?
Ich hätte mir sehr gewünscht, dass die Bundesregierung die Not der Kommunen und ihre herausragende Arbeit stärker anerkennt. Aber sie war nicht bereit, das alte dauerhafte und atmende System der Finanzierung wiederherzustellen. Das heißt ja nichts anderes als: Kommen mehr Flüchtlinge, gibt es für die Kommunen auch mehr Geld. Wir konnten die Bundesregierung aber parteiübergreifend davon überzeugen, dass sie das nicht ein für alle Mal ablehnt, sondern sich jetzt mit uns an einen Tisch setzt und daran arbeitet. Wir Länder werden darauf drängen, dass mit dem Bund bei der nächsten Ministerpräsidentenkonferenz in vier Wochen über einen substanziellen, lösungsorientierten Vorschlag gesprochen werden kann. Im November muss es dann die finale Entscheidung geben. Ich hoffe sehr, dass wir auf dem Weg dahin das Herz der Bundesregierung auch für die Kommunen noch stärker öffnen.
Wie kann das Land vorher helfen?
In Abstimmung mit den Kommunen werden wir klären, wie wir unseren Anteil an der zusätzlichen Milliarde des Bundes einsetzen. Zweitens haben wir enorme Summen in den Landesetat eingestellt, die wir den Kommunen zur Verfügung stellen. Wir reichen in diesem Jahr 1,9 Milliarden Euro an die Kommunen weiter.
Bei der Wahl in Bremen haben die rechten Bürger in Wut fast zehn Prozent erreicht. Die AfD legt in den Umfragen zu. Wo sehen Sie die Ursachen?
Wir leben in einer bewegten, unübersichtlichen Zeit mit großen Umbrüchen und oft sehr polarisierten Debatten. Das kann auch Menschen verunsichern, die für das Gedankengut von rechten Protestparteien eigentlich nicht empfänglich sind. Umso wichtiger ist, dass sich alle demokratischen Parteien ihrer Verantwortung bewusst sind. Wir müssen die Menschen bei der Lösung von Herausforderungen mitnehmen. Politik darf die Leute nicht überrumpeln, sondern muss Entscheidungen erklären. Da muss Politik sensibler sein.
Können Sie garantieren, dass die Reform der Grundsteuer private Immobilienbesitzer nicht über Gebühr belastet?
Der Staat darf sich durch diese Reform nicht bereichern. Dabei bleibt es.
Nervt es Sie oder macht es Sie ein bisschen stolz, dass Sie als Kanzler-fähig angesehen werden?
Weder noch, weil die Frage gerade gar nicht ansteht. Ich finde richtig, dass Friedrich Merz und Markus Söder gesagt haben, das muss im Jahr vor der Wahl entschieden werden.