Mülheim. Zehn Jahre gaben die Ärzte Hendrik Verst noch, als sie bei ihm eine Autoimmunhepatitis diagnostizierten. Doch seine Leber versagte schon früher.

Als Hendrik Verst am Weihnachtsmorgen 2015 erwachte, sah er aus „wie ein Simpson, gelb am ganzen Körper“. Seine Frau Denise schleifte ihn in die Notaufnahme, der damals 29-Jährige selbst hielt ihre Sorge für übertrieben. „Ich fühlte mich fit. Hab mich vernünftig ernährt, täglich Kraftsport gemacht, nie geraucht und kaum Alkohol getrunken“, erinnert er sich… Die Ärzte in der Klinik diagnostizierten eine weit fortgeschrittene Leberzirrhose. Ohne ein neues Organ, sagten sie, habe er keine zehn Jahre mehr.

Doch jeder dritte auf der Warteliste für eine Spenderleber: geht leer aus, stirbt. Auch daran erinnert der heutige „Tag der Organspende“ (4. Juni 2022).

Als der Anruf „Wir haben eine Leber für Sie“ kam, wollte Hendrik Verst nicht einmal eine Tasche mit in die Klinik nehmen, weil er nach vier vergeblichen Anläufen, schon nicht mehr daran glaubte, dass es noch zur Transplantation kam. Seine Frau aber packte ihm eine extra große. „Gab Riesen-Ärger deswegen auf der Intensivstation...“, berichtet sie strahlend.
Als der Anruf „Wir haben eine Leber für Sie“ kam, wollte Hendrik Verst nicht einmal eine Tasche mit in die Klinik nehmen, weil er nach vier vergeblichen Anläufen, schon nicht mehr daran glaubte, dass es noch zur Transplantation kam. Seine Frau aber packte ihm eine extra große. „Gab Riesen-Ärger deswegen auf der Intensivstation...“, berichtet sie strahlend. © FUNKE Foto Services | Oliver Müller

Autoimmunhepatitis: Wenn das eigene Abwehrsystem die Leber zerstört

Eine Autoimmunhepatitis war der Grund für die Zirrhose, erfuhr der Mülheimer Software-Entwickler im Transplantationszentrum der Essener Uniklinik, wohin man ihn zu Neujahr 2016 verlegte: Sein eigenes Abwehrsystem hatte die Leber zum Fremdkörper erklärt und zerstört, „eine Laune der Natur“, erklärt Verst. Eine tückische Erkrankung vor allem, denn sie verursacht keine Schmerzen, fiel erst auf, als der junge Vater deswegen die Gelbsucht (Ikterus) entwickelte. Versts Milz – ein Organ, das mitleidet, wenn die Leber nicht mehr richtig funktioniert – war da bereits mehr als doppelt so groß wie eine normale. Die Essener Ärzte verordneten Immunsuppressiva, Cortison und andere Medikamente, um die weitere Schädigung der Organe zu verzögern. Aufzuhalten war sie nicht mehr.

Eine Zeit lang funktionierte das, trotz mancher Einschränkung. „Mir ging es nach der Diagnose tatsächlich schlechter als ihm“, erinnert sich Denise Verst (38). Doch es dauerte keine zehn, sondern nur fünf Jahre, bis es die Leber nach eine Not-Operation aufgrund eines vermeintlichen Darmverschlusses im Oktober 2020 gar nicht mehr tat, „dekompensierte“.

20 Kilo abgenommen – doch der Bauch war dick wie nie zuvor

Drei Monate später war Hendrik Verst offizell „gelistet“ – und kaum wieder zu erkennen: 20 Kilo hatte er abgenommen, „bei jeder Mahlzeit musste er sich übergeben“, erzählt seine Frau. „Ich war immer müde und völlig kraftlos“, erinnert er sich. „Alle Muskeln waren weg, selbst das kleinste Namensbändchen in der Klinik schlabberte um mein dünnes Handgelenk.“ Nur Versts Bauch war dick wie nie zuvor; dort hatte sich das Wasser eingelagert, dass sein Körper nicht mehr ausscheiden konnte; „acht Liter holten die Ärzte bei einer einzigen Aszites-Punktion heraus“.

Denise Verst erinnert sich auch an „verwirrte Momente“ aufgrund der Zirrhose-bedingten Ammoniak-Einlagerung im Hirn ihres Mannes – vor allem aber an ihre furchtbare Angst, ihn zu verlieren. „Meine größte Sorge war, dass er stirbt, bevor ein passendes Organ gefunden wird.“ Corona war längst nicht überstanden. Und jeder kleine Infekt: hätte ihn doch getötet. Nachts, wenn sie neben ihrem Mann im Bett lag, lauschte sie nur, ob er noch atmete.

„Es werden zu viele Menschen mit ihren Organen bestattet“

Doch Hendrik Verst, heute 36 und Vater von fünf Kindern – das älteste ist 17 Jahre, das jüngste 20 Monate alt – hatte „Glück“. Im November 2021 fand sich eine neue Leber für ihn, das Spenderorgan eines Toten.

Hendrik und Denise Verst besaßen Organspendeausweise, lange bevor die Erkrankung ihr Leben umkrempelte; jeder sollte einen haben, sagen sie. Ihre eigene Dankbarkeit vermögen sie noch nicht in Worte zu fassen, aber auf Social Media werben sie inzwischen vehement dafür, sich mit dem Thema zu befassen. „Es ist unglaublich“, sagt das Paar, „welche falschen Vorstellungen kursieren. Vor allem, wenn man weiß, wie viel Aufwand betrieben wird, um einen Hirntod festzustellen.“

„Es werden“, pflichtet Holger Kraus bei, „viel zu viele Menschen mit ihren Organen bestattet.“ Der Organspende-Koordinator der Essener Uniklinik redet oft mit Angehörigen potenzieller Spender, und er sagt: „Das ist das Schlimmste. Sich entscheiden zu müssen, wenn man den Willen des Toten nicht kennt. Viele Angehörige quälen sich oft jahrelang mit ihrer Entscheidung. Egal wie sie ausfiel.“

Rekordtief bei den aktuellen Organspende-Zahlen

80 Prozent aller Deutschen würden nach ihrem Tod ihre Organe spenden wollen, ergab eine Umfrage im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums. Seine Wahrnehmung im Klinikalltag sei eine komplett andere, sagt Kraus: „Die Ablehnungsrate liegt bei zwei Drittel.“ Er spricht von einem „Rekordtief“ bei den aktuellen Zahlen. Der Grund? „Nicht auszumachen.“ Corona allein erkläre das nicht, überlagere aber natürlich „alles“. „Die Krankenhäuser sind wegen der Pandemie am Limit. Und Organspende macht viel Arbeit – on top.“

Hendrik Verst also hatte wirklich „Glück“. „Ach, Sie schon wieder“, begrüßten ihn die Pfleger, als er in jener November-Nacht in der Essener Uniklinik eintraf. Denn vier fürchterliche Male zuvor war dem Anruf „Wir haben eine Leber für Sie“ letztendlich doch keine Transplantation gefolgt. Nun aber packte man Hendrik Verst die Organbox aufs Bett („Da können sich schon mal kennenlernen, Sie und Ihre neue Leber“) und schob ihn tatsächlich in den OP-Saal. Zum ersten Mal, erinnert sich Verst, „bekam ich da richtig, richtig Angst“. Jeden, den vorbeikam, habe er angefleht: „Ich habe fünf Kinder, bitte, tun Sie Ihr Bestes.“

Der Körper nahm das fremde Leber an, die Seele hatte zu kämpfen

Die Operation verlief erfolgreich, der Körper nahm das fremde Organ an. Doch als der Patient am Morgen danach aufwachte, „war nichts gut“. Objektiv betrachtet – das sagte ihm jeder in der Klinik -- erholte er sich zwar bestens von dem fast siebenstündigen Eingriff, doch: „Meine Psyche machte nicht mehr mit. Ich fühlte mich so hilflos, wie ich da lag auf der Intensivstation, konnte nicht schlafen, mochte nicht essen. Bekam Fieber, Luftnot.“ Und dann entzündete sich auch noch die gewaltige Narbe auf seinem Bauch, platzte auf.

Zehn Wochen sollte es dauern, bis die Narbe heilte. Aber schon nach zweieinhalb durfte Hendrik Verst nach Hause, zu seiner Familie. Von da an ging es bergauf.

„Meine Leberwerte sind heute besser als die meiner Ärztin“

Wie schlecht es dem Vater ging, hatten die Eltern den Kindern nie verschwiegen. Es war ja auch nicht zu verbergen. Auf den Bildern, die die Zwillinge in der Kita malten, waren Augen und Haut ihres Papas immer gelb… Dass er um sein Leben kämpfte, hatte Denise Verst den Jüngsten indes nicht gesagt, sondern nur: „Papa ist schwach und im Krankenhaus, um wieder stark zu werden.“

Heute, ein halbes Jahr nach der Transplantation, geht es Hendrik Verst „fantastisch“. Seine Leberwerte, berichtet er lachend, „sind besser als die meiner Ärztin. Ich könnte Bäume ausreißen.“ Wobei ihm die Gartenarbeit noch verboten ist, genau wie die im Haushalt („so schade“) oder blutige Steaks, rohe Eier und Cranberrysaft. Aber herumtollen mit seinen Kindern, das geht wieder. „Und das ist das Schönste“, sagt Hendrik Verst.

„Drück mich mal so fest du kannst“, forderte ihn seine Fünfjährige jüngst förmlich auf. Er tat’s – und sie schimpfte glücklich: „Hör auf, Papa. Zu feste, viel zu feste.“

>>>INFO Organspende: Zahlen und Fakten

Seit 1983 ist der erste Juni-Samstag bundesweit „Tag der Organspende“. Aktuelles Infos und Programm unter https://www.tagderorganspende.de/

Es gibt insgesamt 46 Transplantationszentren in Deutschland, sechs davon liegen in NRW. Am WZO, dem Westdeutschen Zentrum für Organtransplantationszentrum der Essener Uniklinik, wurde 1987 die erste Leber „verpflanzt“. 2021 wurden hier insgesamt 59 Lebern transplantiert; bundesweit waren es 834.

848 Patienten standen am 31. Dezember 2021 auf der Warteliste für eine Leber. 268 Menschen starben im vergangenen Jahr, während sie auf eine neue Leber warteten.

Die Zahl der Organspender lag laut Deutscher Stiftung Organtransplantation 2021 bundesweit bei 933, und damit über Vorjahresniveau (913). In den ersten vier Monaten dieses Jahres brachen die Zahlen indes gewaltig ein: In NRW wurden von Januar bis April 2022 nur 44 postmortale Organspender gezählt, 37 Prozent weniger als im Vorjahres-Zeitraum (70).

Auf Instagram berichtet Hendrik Verst über sein Leben vor und nach der Transplantation: https://www.instagram.com/fitdad_hendrik/