Essen. Die Ärzte machten den Eltern wenig Hoffnung, Jonas kam krank zur Welt. Mit 17 erhielt er nun neue Niere. „Ein Riesengeschenk“, sagt die Mutter.

Der Anruf kam mitten in der Nacht. Er kam zudem gut sechs Jahre und neun Monate früher als erwartet. Jonas Klein und sein Vater waren im Wohnzimmer eingeschlafen, vor dem Fernseher. Der Vater schreckte als erster hoch, ging ran, „erstarrte“, wie sein Sohn erzählt. Am Apparat war Eurotransplant: Man habe eine Niere für Jonas.

Katja Klein ist überglücklich, dass durch die Organspende eines Toten ihrem Sohn Jonas ein neues Leben geschenkt wurde. Und sie bewundert seine Nervenstärke...
Katja Klein ist überglücklich, dass durch die Organspende eines Toten ihrem Sohn Jonas ein neues Leben geschenkt wurde. Und sie bewundert seine Nervenstärke... © FUNKE Foto Services | Vladimir Wegener

Er habe das erst gar nicht „gerafft“, erinnert sich der 17-jährige Dortmunder. „Ich war wie im Schock, hab richtig gezittert.“ Schwester Antonia schickt ihn unter die Dusche, packt eine Tasche mit dem Nötigsten für den großen Bruder. Die Eltern begleiten das Kind ins Essener Universitätsklinikum. Dort wird ihm „eine schreckliche Ewigkeit später“, wie die Mutter meint, das lebensrettende Spenderorgan eines Toten transplantiert. „Genau hier, im Operativen Zentrum II“, zeigt Jonas uns beim Spaziergang übers sonnige Klinikgelände, exakt 14 Tage danach.

Jonas leidet an ARPKD, einer seltenen, angeborenen Erkrankung: Zystennieren. Seine beiden eigenen seien „komplett übersät“, erklärt die Mutter, Katja Klein. Sie hätten zuletzt nur noch 15 Prozent der eigentlich erforderlichen Leistung gebracht. Dass beide Elternteile Träger des krankmachenden Gens sind, ahnte niemand. Erst drei Wochen vor der Geburt von Jonas fiel auf, dass das Fruchtwasser verschwunden war: Das Baby hatte es getrunken, aber nichts ausscheiden können.

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Die Chancen eines Neugeborenen mit ARPKD stehen schlecht, die mittlere Lebenserwartung betroffener Kinder liegt bei sechs Jahren. Das kann man nachlesen. „Jonas“, erzählt Katja Klein, „haben wir noch auf der Intensivstation im Kölner Spezialzentrum taufen lassen.“ Eine Woche später deuten die Ärzte an: Er könnte es doch packen. An seinem zehnten Lebenstag wird Jonas in die Essener Uniklinik verlegt. Vier Monate später dürfen ihn die Eltern mit nach Hause nehmen.

„Meine Kindheit war ziemlich normal“, meint Jonas, der gerade die Abschlussklausuren seiner Realschule verpasst. Normal für ihn, jeden Monat zur Kontrolle in die Klinik zu müssen, jetzt schon über 17 Jahre lang. Normal, bis zu zwölf Tabletten täglich zu schlucken; als Kind schon mit zu hohem Blutdruck und streng nach Diät leben zu müssen. Auch als Teenager auf Schokolade, Chips, Pommes oder Würstchen zu verzichten. „Eine Banane“, ergänzt Jonas grinsend, „hab ich übrigens auch noch nie gegessen“. Trotz der Wachstumshormone, die er sich täglich spritzt, weil sein Körper sie nicht selbst produziert, bleibt er zudem „der kleine, zarte“, wird ihm „Minderwuchs“ diagnostiziert.

Doch die Eltern packen das Kind nicht in Watte, erlauben ihm sogar, Fußball zu spielen, als er sechs ist. Mit zwölf muss der Junge seine Karriere als Stürmer bei Westfalia Wickede aber beenden, mit dem Sport, seiner großen Leidenschaft, ganz aufhören. Die körperliche Belastung wurde zu hoch. „Darunter“, räumt Jonas ein, „habe ich schon gelitten“.

Seine Mutter sagt, in all den Jahren habe sie vor allem die Sorge umgetrieben: Wie lange schafft er es mit seinen eigenen Nieren? Denn dass er irgendwann eine neue brauchte, sei von Anfang an klar gewesen. „Dass Jonas zur Dialyse muss, war für mich aber eine Horrorvorstellung.“, erzählt sie, „weil es für ihn furchtbar gewesen wäre.“ Anfang März war es fast soweit, die Nieren drohten zu versagen. Katja Klein wusste da längst, das sie als einzige in der Familie ihrem Sohn eine der eigenen Nieren spenden könnte. Und sie wollte es gern tun. Vor der Lebendspende aber musste Jonas offiziell „gelistet“ werden, als potenzieller Empfänger auch für eine postmortale Spende, das Organ eines Toten. So will es das Gesetz.

Sieben Jahre, erklärten die Ärzte, werde er vermutlich darauf warten müssen. Noch immer sind nur wenige Menschen zur Organspende bereit. 7.338 Patienten standen Ende 2020 auf der Warteliste für eine Niere…. Zehn Wochen nach Jonas’ Listung brachte Katja Klein die letzte der Voruntersuchungen für ihre Lebendspende hinter sich. Es war der Tag vor der Nacht, als Eurotransplant anrief.

Holger Kraus ist seit einem Jahr Transplantationsbeauftragter des Universitätsklinikums Essen. Früher hat er für als Koordinator für die Deutsche Stiftung Organtransplantation gearbeitet.
Holger Kraus ist seit einem Jahr Transplantationsbeauftragter des Universitätsklinikums Essen. Früher hat er für als Koordinator für die Deutsche Stiftung Organtransplantation gearbeitet. © FUNKE Foto Services | Vladimir Wegener

Die fremde Niere, die Jonas so überraschend schnell erhielt, war ein „Perfect Match“, erklärt Holger Kraus, Transplantationsbeauftragter der Essener Uniklinik. Ein Volltreffer. Alle Gewebemerkmale von Spender und Empfänger stimmten überein. „Das und sein Alter haben Jonas wohl nach weit nach oben auf der Warteliste katapultiert“, sagt Kraus. Viel zu wenige Menschen machten sich Gedanken um das Thema Organspende, klagt er, noch weniger dokumentierten ihren Willen, dabei würde das „doch so helfen“. 39 Prozent der Deutschen hätten einen Organspendeausweis, habe jüngst eine Umfrage ergeben: Die „gefühlte Praxis“ liege weit darunter, sagt Kraus, „bei höchstens zehn Prozent“.

Katja Klein ahnt, es hätte ganz anders kommen können. Und sie ist sehr glücklich, dass sich für ihren Sohn eine Spenderniere gefunden hat, „weil meine dann noch immer für ihn zur Verfügung steht, für alle Fälle, oder wenn es die neue in 15 Jahren nicht mehr tut.“ Doch sie bewegt sehr, wer ihrer Familie ein solches „Riesengeschenk“ machte. Sie sei so dankbar dafür, sagt die 46-Jährige. Aber immerzu denke sie auch: „Du freust dich gerade so, und eine andere Familie ist gleichzeitig total traurig.“

Vielleicht wird sich Jonas eines Tages bei dieser Familie bedanken, er denkt darüber nach, ihr anonym einen Brief zu schreiben. Das Transplantationszentrum würde ihn weiterleiten. Doch noch nicht jetzt. Noch ist das alles zu neu, zu frisch. Der 17-Jährige hat die vierstündige Operation vor zwei Wochen gut überstanden, wirkt erstaunlich fit. Doch noch ist er nicht über den Berg, liegt auf der K2, der Kindernephrologie des Uniklinikums. Der heutige Ausflug in die Sonne ist eine Premiere. „Seine Werte sind längst nicht in Ordnung, die Sorge, dass er das Organ abstößt, bleibt im Hinterkopf“, meint seine Mutter. „Ich schlafe prima“, beruhigt Jonas. Seine Ärzte seien doch sehr zuversichtlich. „Für meine Mutter“, glaubt er, „war es aufregender als für mich“. „Dabei hab ich mich so zusammen gerissen“, lacht die.

Fußball wird Jonas nie wieder spielen können, dafür sind andere Organe, die Milz vor allem, inzwischen zu sehr mitangegriffen. Aber in der nächsten Woche will er feiern. Da wird er 18. „Dann“, hat er seinen Ärzten gesagt, „muss ich hier raus sein.“

>>>> Organspende: Zahlen, Daten, Fakten

Der Tag der Organspende findet jedes Jahr bundesweit am ersten Samstag im Juni statt, 2021 also am heutigen 5. Juni. Er soll „danken, aufklären und ein Zeichen für die Wichtigkeit der Entscheidung setzen“. Infos und Programm unter https://www.tagderorganspende.de/

Das Transplantationszentrum an der Essener Uniklinik ist es eines von bundesweit 46. In diesem Jahr wurden hier bereits 53 Nieren transplantiert, zehn davon Kindern.

Die Zahl der Organspender lag bundesweit im Jahr 2020 bei 913 (NRW: 179, Uniklinik Essen: 10).