Essen. „Hilfe, ist die dünn“: Sätze wie diese hört Sarah andauernd. Dabei ist sie einfach von Natur aus schlank. Wie Skinny Shaming sie belastet.
„Kind, iss mal was!“, sagt die Kontrolleurin vorm Fußball-Stadion. „Hast du kein Brot zu Hause?“, fragt der Postbote. Und als Sarah sich ein Stück vom Geburtstagskuchen der Kollegin nimmt, ruft jemand durchs Büro: „Hilfe, ist die dünn! Das ist doch nicht mehr schön. Sag mal, bist du magersüchtig?“
Sarah, die eigentlich anders heißt, hat lange Haare, große Augen, ein breites Lächeln – und ist sehr schlank. Egal, mit wem sie sich heute trifft, sie ist immer die Dünnste. Und egal, was sie isst, sie nimmt einfach nicht zu. Dass sie „extrem dünn“ ist, sagt Sarah selbst. Sie ist heute Ende 20, hatte aber schon immer einen zierlichen Körper, dünne Beine, sichtbare Knochen. Nicht, weil sie besonders auf ihre Ernährung achtet oder außergewöhnlich viel Sport treibt, sondern weil sie einfach so gebaut ist.
Knochig, mager, krank: „Skinny Shaming“ belastet dünne Menschen
Dafür muss sie sich rechtfertigen, vor völlig fremden Menschen. „Bei mir ist es lange über das Maß hinaus, dass Leute sagen: ,Du musst doch froh sein, dass du so dünn bist. Das ist Luxus.‘ Mir unterstellen viele eine Essstörung“, sagt Sarah.
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Damit ist sie nicht allein. Knochig, mager, krank: Sehr dünne Menschen werden in der Gesellschaft häufig diskriminiert. „Skinny Shaming“ nennen das Betroffene. Ein Begriff, der im Zuge der Body-Positivity-Bewegung in den Neunzigerjahren aufkam und unter dem Menschen noch heute ihre Erfahrungen in den sozialen Netzwerken teilen – von Beleidigungen wie „Skelett“ oder „Bohnenstange“ bis hin zu Magersuchts-Vorwürfen.
Skinny Shaming: Vom zierlichen Kind zur potenziell Magersüchtigen
Dass ihr Gewicht mal eine so große Rolle für andere spielen würde, hätte Sarah sich als kleines Mädchen nicht vorstellen können. Dann kam sie in die Pubertät. „Ab da war ich nicht mehr das zierliche Kind, sondern die potenziell Magersüchtige.“
Für Sarah war und ist das bis heute schwer nachzuvollziehen. Schließlich sei sie schon immer eher schüchtern, ruhig und eben sehr dünn gewesen. „Ich habe nicht auf einmal radikal abgenommen oder meinen Charakter total verändert. Ich war ja immer noch ich. Das hat diese Magersucht-Unterstellungen für mich so absurd gemacht“, erinnert sie sich.
Lehrerin vermutet Magersucht – und macht Eltern Vorwürfe
Und obwohl sich eigentlich nichts verändert hatte, war auf einmal alles anders. Sie hatte plötzlich Angst, ein Referat vor der Klasse zu halten, am Schwimmunterricht teilzunehmen, ein T-Shirt zu tragen. „Eine Lehrerin hat mal bei meinen Eltern angerufen und gesagt, sie würde eine Magersucht vermuten. Das hat meine Mutter dann verneint. Aber die Lehrerin hat nicht lockergelassen, hat meinen Eltern vorgeworfen, sie würden die Augen verschließen.“
Dabei gingen ihre Eltern mit ihr zu vielen Ärzten, um sicherzugehen, dass alles in Ordnung ist. Belastungs-EKG, Blutabnahmen, Stoffwechselproben, Ultraschalls: Zahlreiche Untersuchungen blieben ohne Befund. „Meine Ärztin, zu der ich gehe, seit ich ein Kind bin, hat irgendwann gesagt: ,Wenn alles Organische ausgeschlossen ist, wir dich regelmäßig auf den Kopf stellen und dabei nichts erkennen, dann muss man dir auch einfach mal zugestehen, dass dein Körper halt einfach so ist.‘“
Dass es ganz normal ist, dass manche Menschen von Natur aus sehr dünn sind, sagt auch Johannes Hebebrand. Er arbeitet für die Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters am LVR-Klinikum in Essen und ist Experte für Essstörungen. „Dass manche Menschen sehr dünn sind, ist überwiegend genetisch bedingt. Sie haben oft auch einen höheren Energieumsatz und eine schlechtere Nahrungsverwertung. Dann können sie tun, was sie wollen: Sie nehmen einfach nicht zu“, so Hebebrand.
Konstitutionelles Untergewicht nennt das der Experte. Betroffene unterscheiden sich in wichtigen Punkten von Menschen, die an einer Magersucht erkrankt sind. Wer sich Sorgen macht, sollte zum einen herausfinden, ob die Person schon immer dünn ist. Zum anderen seien – wie bei Sarah auch – häufig weitere Familienmitglieder sehr schlank. „Eine vorangegangene Gewichtsabnahme kann hingegen ein Indiz für eine Magersucht sein. Genauso wie Hunger-Symptome des Körpers, als zum Beispiel ständiges Frieren oder ein niedriger Puls.“
Skinny Shaming: „Betroffene denken: ,Mit mir stimmt etwas nicht‘“
Wer Zweifel hat, könne die Person natürlich darauf ansprechen. Aber behutsam und auch erst, wenn man sie gut kennt. Die ständige Konfrontation mit ihrem Gewicht ist für viele dünne Menschen schließlich eine große Belastung, so Hebebrand. Er hat eine Studie mit jungen Erwachsenen durchgeführt, die statistisch gesehen zu den dünnsten zehn Prozent zählen. Das Ergebnis: „Ein Drittel von ihnen leidet unter der Situation. Sie werden so oft für schwächlich oder sogar krank gehalten, dass sie selbst den Eindruck bekommen: ,Mit mir stimmt etwas nicht.‘“
Auch Sarah hinterfragte sich irgendwann selbst. Sie begann, online über die Krankheit Magersucht zu recherchieren – und war schockiert. „Keines der Symptome trifft auf mich zu, außer, dass ich eben auch dünn bin. Magersucht ist eine schwere psychische Erkrankung und eine Wahrnehmungsstörung. Für mich ist es verletzend und demütigend, wenn mir das unterstellt wird.“ Sie wünscht sich daher ein stärkeres Bewusstsein dafür, was die Krankheit wirklich bedeutet. Auch, damit wirklich Betroffene schneller Hilfe bekommen.
Body-Positivity-Bewegung: Nicht auf Körper reduzieren
Außerdem sieht sie die Gefahr, dass von Natur aus dünne Menschen durch die ständigen Vorwürfe irgendwann tatsächlich eine Essstörung oder zumindest eine ungesunde Einstellung zum Essen entwickeln. Sie selbst ging früher nie im Restaurant auf Toilette. Aus Angst, die Menschen könnten denken, dass sie sich nach dem Essen übergibt. Sie stopfte Mahlzeiten in sich rein, damit ja nichts auf dem Teller übrigblieb. Und noch heute fühlt sie sich beim Essen oft beobachtet und schämt sich, wenn sie ihre Portion nicht schafft. „Isst du viel, sagen sie: Die bricht das danach eh wieder aus. Isst du wenig, sagen sie: Siehst du, die hungert. Wie du es machst, machst du es falsch.“
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Dass generell ein Bewusstsein dafür vorhanden ist, dass sehr dünne Menschen krank sein könnten, findet sie zwar verständlich und sieht daher auch die Body-Positivity-Bewegung, die sagt, dass jede Körperform schön ist, kritisch. „Es muss ja ein Bewusstsein da sein, damit auch bestimmte Warnfaktoren erkannt werden können“, sagt sie. „Aber es kommt eben sehr darauf an, wie und von wem man angesprochen wird. Es ist auch sehr verletzend, immer mit etwas konfrontiert zu werden, was man selbst nicht schön findet. Ich würde ja gerne ein paar Kilo mehr wiegen, aber kann es nun mal nicht ändern.“
Umso mehr hofft sie, dass sie irgendwann nicht mehr auf ihre Figur reduziert wird. „Ich bin ja Sarah und nicht nur der Körper“, sagt sie. „Und auch in einem dünnen Körper steckt eine Persönlichkeit, die gesehen werden möchte.“
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