Essen. Lena aus Essen war jahrelang magersüchtig. Wie die Krankheit ihr Leben bestimmt hat – und wie sie den Kampf gegen die Essstörung gewonnen hat.

Lena* ist Mitte 20, als sie an einer Essstörung erkrankt. Mithilfe der „Frauenberatung Essen“ hat die heute 40-Jährige den Kampf gegen die Magersucht gewonnen. Hier erzählt sie, wie sie das geschafft hat:

„Dass es so nicht weitergeht, habe ich gemerkt, als ich spazieren war und dabei den Impuls unterdrücken musste, Essen aus dem Mülleimer zu nehmen oder vom Boden aufzuheben. Man macht das natürlich nicht wirklich, aber allein der Gedanke ist ja schon schlimm genug. Der Hunger ist halt immer in den Gedanken, weil der Überlebensinstinkt dir ja sagt, dass du essen musst.

Ehemals Magersüchtige aus Essen: Der Wunsch nach Kontrolle

Eine Kaloriengrenze hatte ich nicht. In der Zeit galt für mich einfach: So wenig wie möglich, am besten gar nichts. Die Essstörung habe ich Mitte 20 entwickelt. Da hatte ich einen Zusammenbruch, da hat mich vieles aus meiner Kindheit wieder eingeholt.

Viele denken ja, man hat einfach ein bisschen zu viel „Germany’s Next Topmodel“ geguckt und möchte dann auch so dünn sein wie die Models. Aber Magersucht ist eigentlich eher ein Versuch, mit einer schwierigen Lebenssituation klarzukommen. Wenn du nichts gegessen hast und sozusagen leer bist, dann fühlst du nicht viel anderes außer den Hunger. Man klammert sich an etwas, das man kontrollieren kann.

Betroffene aus Essen berichtet: Kontrollverlust bei Essstörung

Aber ab einem gewissen Punkt legt sich ein Schalter um. Dann kannst du es nicht mehr kontrollieren, sondern die Essstörung kontrolliert dich. Dann sitzt man zum Beispiel im Restaurant und überlegt die ganze Zeit, was die am niedrigsten kalorische Option ist. Die Essstörung feuert das Angstzentrum in solchen Momenten wie sonst was an. Ich konnte mich kaum noch auf die Gespräche konzentrieren.

Was ich auch gemacht habe, ist das sogenannte Body Checking. Ich habe also zum Beispiel kontrolliert, wie dick meine Arme sind, ob man meine Rippen sieht. Das war total sinnlos und doof, weil ich mich gleichzeitig geschämt habe.

Magersüchtige findet Hilfe bei „Frauenberatung Essen“

Ich erinnere mich an eine Situation, da war ich mit Freunden in einer Kneipe und wir haben gekickert. Und ich dachte die ganze Zeit: Meine Arme, meine Arme. Ich habe mich so geschämt, weil sie durch das Ausstrecken noch dünner aussahen. Das sind die Momente, in denen man merkt, dass man Hilfe braucht.

Dass ich mir wirklich Hilfe geholt habe, war aber eher Zufall. Ich war spazieren, um den Kopf freizubekommen. Dabei bin ich auf den Schaukasten der „Frauenberatung Essen“ gestoßen. Dort stand, dass die Beratungsstelle eigentlich gar nicht geöffnet hatte. Ich habe trotzdem geschellt. Zehn Minuten später saß ich mit einem warmen Tee in der Hand auf dem Sofa.

Frauenberatung Essen: „Es war der erste Ort, an dem ich mich öffnen konnte“

Cornelia Simmberg von der Beratungsstelle hat mir das Gefühl gegeben, dass ich Bedürfnisse haben darf, dass ich einen Wert habe – als Mensch, als Frau. Es war der erste Ort, an dem ich mich öffnen konnte. Die Beratungsstelle ist so wichtig, gerade weil es so wenig Therapieplätze gibt.

Später habe ich dann meiner Schwester von meiner Essstörung erzählt und dachte: So, jetzt ist es raus, wir gehen eine Pizza essen und alles ist gut. Aber dann hast du das Pizzastück vor dir und hast Angst vorm Essen. Cornelia Simmberg hat mir erklärt, warum das so ist. Ich habe mir gegenüber Verständnis entwickeln können. Das ist der erste Schritt Richtung Heilung: Zu lernen, sich selbst zu verzeihen.

Cornelia Simmberg von der „Frauenberatung Essen“ hilft Betroffenen mit ihrer Erkrankung.
Cornelia Simmberg von der „Frauenberatung Essen“ hilft Betroffenen mit ihrer Erkrankung. © FUNKE Foto Services | STEFAN AREND

Der Weg aus der Magersucht: Zyklus zurückbekommen

Ich habe es auch rausgeschafft, weil ich gemerkt habe, dass ich so nicht weiterleben kann. Ich hatte zum Beispiel Durchblutungsstörungen und meinen Zyklus verloren. Dann habe ich mir ein Ziel gesetzt: Ich will meine Periode zurückhaben. Im Internet habe ich nach Empfehlungen zur nötigen Kalorienmenge geschaut und dann jeden Tag kalkuliert, wie ich diese erreichen kann.

Dabei habe ich mir vorgestellt, ich wäre wie zwei Personen: ich selbst und meine beste Freundin. Denn du kriegst es nicht hin, direkt gut zu dir sein. Du musst dich fragen: Was würde deine beste Freundin jetzt für dich wollen? Ich habe mich dann eine ganze Zeit lang in die Heilung reingesteigert, es war gut, allerdings wieder in Selbstisolation.

Essenerin besiegt Magersucht: „Du darfst essen“

Die Frauenberatungsstelle in Essen war in der Zeit immer wieder eine Anlaufstelle für mich, hat mich aus meinem doch sehr ritualisierten Tagesablauf rausgeholt. Ich habe in der Zeit der Heilung auch sehr oft Kuchen gegessen, da ich mir das so lange verboten hatte. Manchmal habe ich mir gleich zwei Sorten geholt, nur weil ich beide probieren wollte.

Oft habe ich nur kleine Stücke gegessen, aber ich wurde immer entspannter dabei, mir das zu erlauben. „Du darfst essen“, das ist einer der Sätze, der mir unheimlich geholfen hat. Den Satz habe ich zuerst von Cornelia Simmberg gehört.

Essenerin: „Der Körper ist wirklich eine Wundermaschine“

Ich wurde langsam wieder ich selbst. Schritt für Schritt. Ungefähr nach einem halben Jahr hatte ich zum ersten Mal wieder so etwas wie eine Periode. Als mein Mann und ich dann versucht haben, schwanger zu werden, hat es sofort geklappt. Der Körper ist wirklich eine Wundermaschine und meine Tochter das größte Geschenk.

Was ich vor allen Dingen anderen Betroffenen mit auf den Weg geben will: Jede von uns ist es wert und jede von uns kann es schaffen, glücklich zu sein. Ich glaube, bis ich irgendwann gar nicht mehr registriere, was ich esse, dauert es vielleicht noch. Ich halte mir aber immer vor Augen, dass ich mich entschieden habe, gesund zu werden. Und dazu gehört eben, einfach zu essen und zu genießen, was das Herz begehrt. Schließlich gibt es nicht umsonst den Begriff Soulfood.“

*Name von der Redaktion geändert