Essen. Blutegel können vielen erkrankten Menschen helfen und Beschwerden lindern. Kathrin Knau setzt nach einem Unfall auf eine Behandlung mit ihnen.

„Und tschüss“, sagt Kathrin Knau, als der letzte Blutegel vom kleinen Finger ihrer linken Hand fällt. Fast ein wenig traurig. Dass er schon satt ist....

Die 48-jährige Essenerin setzt nach einem Skiunfall vor neun Monaten große Hoffnungen in die winzigen Würmer, die ihr in der Klinik für Naturheilkunde und Integrative Medizin der Evangelischen Kliniken Essen-Mitte (KEM) an diesem Tag zum ersten Mal angelegt wurden. Handchirurg, Orthopäde und Ergotherapie hätten für den komplex verletzten Finger schon viel erreicht. Aber noch immer ist er krumm und unbeweglich, das Gelenk deutlich geschwollen.

Blutegel helfen selbst nach schlimmen Unfällen

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    Behandlung mit Blutegeln: Heilkraft wird seit Jahrtausenden genutzt

    Schmerztherapeutin Sandra Harter ist zuversichtlich, dass die winzigen Würmer Knau helfen werden – sie schwärmt von deren Wesen („die sind schon süß, und sehr sozial“), vor allem aber von ihrer Heilkraft, die seit Jahrtausenden genutzt würde. In die KEM, erzählt sie, kämen täglich zwei Patienten zur Blutegel-Therapie. Je nach Bedarf werden wöchentlich neue Egel bestellt – bei der Biebertaler Blutegelzucht (BBBZ), der einzigen Farm in Deutschland, die sie kultiviere. Maximal werden zwölf Egel angesetzt, für einen Finger reichen drei.

    Kathrin Knau ekelt sich nicht vor den Egeln. Als man sie ihr zum ersten Mal setzt, blickt die 48-Jährige aus Essen dennoch ein wenig skeptisch.
    Kathrin Knau ekelt sich nicht vor den Egeln. Als man sie ihr zum ersten Mal setzt, blickt die 48-Jährige aus Essen dennoch ein wenig skeptisch. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

    Die drei für Kathrin Knau hat Harter 35 Minuten zuvor aus einem großen Einmachglas – gefüllt mit stillem Wasser aus dem Tetrapak und insgesamt 30 Blutegeln – gefischt und in ein kleineres Gefäß flutschen lassen, dieses dann neben dem zu behandelnden Finger positioniert. „Den Weg zur Patientin müssen die Blutegel selber finden. Die sind sehr eigen, man darf sie nicht zwingen“, erklärt die Heilpraktikerin.

    Blutegel-Behandlung: „Manche essen langsam, andere schnell, wie Menschen“

    Keine Minute später haben alle drei angebissen – im wörtlichen Sinne: 240 Zähnchen stecken in den drei Kiefern der gerade mal 15 Zentimeter kurzen, dunklen Würmer. Nun dürfen sie saugen, solange sie mögen. „Es pikt ein bisschen, ist aber gut auszuhalten“, befindet Kathrin Knau. Sollte es auch sein, denn bis die satten Egel von alleine abfallen, können 20 Minuten, aber auch vier Stunden vergehen. „Manche essen langsam, andere schnell, wie Menschen“, erklärt Harter.

    Ob sie sich ekele vor den Egeln? „Nein, nicht wirklich“, sagt Knau. „Ich bin im Sauerland groß geworden. Da hat man keine Berührungsängste mit der Natur.“ Tatsächlich ist Sandra Harter in den 20 Jahren, die sie mit Blutegeln arbeitet, nur ein einziger Patient „getürmt“. „Aber die meisten sagen vorher, ich gucke nicht hin.“ Und täten es dann doch.

    Fertigarzneimittel, Schmarotzer, lebende Apotheke oder: „der Hammer“?

    „Hirudo medicinalis officinalis“ ist der offizielle Name des medizinischen Blutegels; Biologen gilt er als „Ektoparasit“ (Schmarotzer, wie Läuse, Zecke und Flöhe); und Juristen seit 2005 als „Fertigarzneimittel“. Sandra Harter indes nennt Blutegel „lebende Apotheken“. Und für ihren Chef, Dr. Thomas Rampp sind sie schlicht: „der Hammer“.

    Dr. Thomas Rampp leitet die Institute für Naturheilkunde, Traditionelle Chinesische und Indische Medizin an den Kliniken Essen-Mitte. Schon vor 30 Jahren nutzte sein Opa Blutegel in seiner Praxis im Allgäu.
    Dr. Thomas Rampp leitet die Institute für Naturheilkunde, Traditionelle Chinesische und Indische Medizin an den Kliniken Essen-Mitte. Schon vor 30 Jahren nutzte sein Opa Blutegel in seiner Praxis im Allgäu. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

    Der Leiter der Institute für Naturheilkunde, Traditionelle Chinesische und Indische Medizin erklärt: Während sie das Blut eines Patienten, ihres „Wirts“ trinken, sondern Blutegel Salvia (Speichel) ab – und drei Gruppen von Enzymen: entzündungshemmende, schmerzlindernde, durchblutungsfördernde – „und ganz zum Schluss noch ein desinfizierendes“. Rund 30 dieser Enzyme seien bereits aufgeschlüsselt, doch es soll weit mehr geben, einer russischen Studie zufolge mindestens 108. Eines der wichtigsten ist Hirudin – längst im Labor „nachzubauen“. Doch das aus dem Labor, zeigten Studien, hilft nicht so, wie man es erwartet hatte. „Es ist nicht die Einzelsubstanz, die wirkt. Es ist der Cocktail“, erläutert Rampp.

    Behandlung mit Blutegeln kostet zwischen 150 und 200 Euro

    Zum Einsatz kommen Blutegel insbesondere bei degenerativen Gelenk-, bei rheumatischen und bei venösen Erkrankungen – aber auch in der plastischen Chirurgie, bei akuten Gichtanfällen, Gürtelrose, Mittelohrentzündung oder Bluthochdruck... Die Therapie ist aber nicht für alle geeignet, immungeschwächte Patienten etwa oder solche, die Gerinnungshemmer wie Marcumar nehmen, werden in den KEM nicht therapiert. Die Nebenwirkungen, erläutert Rampp, seien milde. Am typischsten sei ein Jucken an der Bissstelle. „Heiljucken“, sagt der Arzt, wie bei Insektenstichen helfe Salbe. 150 bis 200 Euro, abhängig von der Zahl der verwendeten Blutegel, berechnet die Klinik Patienten für eine Blutegel-Therapie. Nicht alle Kassen zahlen für die Behandlung.

    Rentnerteich oder Tiefkühler: Wo der Egel endet

    Medizinische Blutegel dürfen nur ein einziges Mal einmal verwendet werden, das ist zum Infektionsschutz gesetzlich so vorgeschrieben. Das heißt: Sie leben, um sich ein einziges Mal satt zu fressen?

    Im Institut für Naturheilkunde und Integrative Medizin der KEM werden Blutegel nach ihrem Therapie-Einsatz eingefroren und anschließend als Krankenhausmüll entsorgt. „Klingt brutal, ist aber die schonendste Methode“, so Schmerztherapeutin Sandra Harter. Die wenigsten Patienten hätten deswegen ein schlechtes Gewissen oder fragten nach Alternativen.

    Die gibt es aber: Die Biebertaler Blutegelzucht-Farm (BBBZ), die jährlich an die 500.000 Blutegel verkauft, hat gemeinsam mit den Aufsichtsbehörden und der Lebenshilfe Gießen ein Rücknahmekonzept entwickelt, „um unnötiges Töten der Tiere“ zu minimieren. „Benutzte“ Egel bringt sie in „Rentnerteichen“ unter. Das Rücknahme-Set (für bis zu 50 Egel) kostet 67,83 Euro und ist in der „Blutegel-Apotheke“ erhältlich.

    Berühmtester Patient der KEM-Blutegel war übrigens vor Jahren Paul Kuhn. Der Bandleader und Sänger kam mit einer Trigeminus-Neuralgie, starken Nervenschmerzen im Gesichtsnerv; stand kurz davor, deswegen seine Tournee abzubrechen. Doch am Abend, nachdem die Blutegel ihr Werk an ihm verrichtet hatten, stand er wieder auf der Bühne, beziehungsweise: saß er schon wieder am E-Piano in der Klinik. Dankbar für die rasche Hilfe, die er hier erfuhr, gab Kuhn dort ein kleines Konzert.

    Sandra Harter: Man nennt sie die „Blutegel-Königin“ der KEM.
    Sandra Harter: Man nennt sie die „Blutegel-Königin“ der KEM. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

    Die Nachblutung kann bis zu 24 Stunden andauern

    Harter ist ein anderer Patient in besonderer Erinnerung geblieben: ein alter Mann, der unter Knieschmerzen litt. Wochen nach der Blutegel-Therapie meldete er sich bei ihr: Alles super, er könne viel besser laufen. Auch seine alte Sprunggelenkverletzung mache keinen Ärger mehr. Von dieser Verletzung hatte er Harter zuvor gar nicht erzählt, Egel hatte sie darum am Sprunggelenk nie angesetzt. „Aber die Therapie wirkt ja systemisch, im ganzen Körper“, lacht sie.

    Aus Kathrin Knaus kleinem Finger fließt inzwischen das Blut, in dicken Tropfen. Das ist gewollt und wichtig gar. Die Nachblutung könne bis zu 24 Stunden andauern, erklärt die Schmerztherapeutin. Die abgefallenen Egel sind deutlich dicker als zuvor, bewegen sich kaum mehr. Fünf bis zehn Milliliter Blut hat ein jeder „gezogen. Für die Patientin heißt es nun: Abwarten. Bessern sich ihre Beschwerden nicht, kann die Therapie in ein paar Wochen wiederholt werden „Aber schlechter als vorher“, sagt Knau, „fühle ich mich gerade bestimmt nicht.“

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