Bochum. Sebastian B. wollte bis vier zählen. Bei drei explodierte der Knaller in seiner Hand, verstümmelte ihn. „Ich hatte Glück“, sagt er.

Eigentlich war er schon auf dem Heimweg, in jenen ersten Minuten des Jahres 2018. Die eigene Böller-Box war leer, der „Jägermeister“ auch, das Silvester-Feuerwerk abgebrannt. Doch dann entdeckte Sebastian B. in der Kiste eines Kumpels noch einen übersehenen„Polen-Böller“. Diesen einen letzten wollte der Wittener spektakulär krachend in der Luft explodieren lassen. „Langsam bis vier zählen“, nahm er sich vor, „dann erst wegwerfen.“ „Abkochen“ heißt das bei „Call of Duty“, dem Computerspiel, das er damals gut fand: die Zündverzögerung einer Granate maximal ausreizen. Bei „drei“ explodierte der Böller und zerfetzte die rechte Hand des damals 17-Jährigen. „Ich war so blöd“, sagt er heute.

Nicht blöder als andere. Eine bundesweite Statistik gibt es nicht, aber allein das Unfallkrankenhaus Berlin zählte in der vergangenen Silvesternacht 65 „Böller-Opfer“; die Fachgesellschaften der Unfall- und Handchirurgen gehen davon aus, dass es in anderen Großstadt-Krankenhäusern ähnlich aussieht. „An keinem anderen Tag im Jahr verletzen sich so viele Menschen die Hände wie an Silvester“, heißt es in ihrer aktuellen Warnung vor dem Jahreswechsel.

Sebastian B. ist heute 23 und Vater zweier Kinder, das dritte ist unterwegs. Silvesterknallerei mit dem Papa werden sie nie erleben, verspricht er. Er weiß, was dabei passieren kann.
Sebastian B. ist heute 23 und Vater zweier Kinder, das dritte ist unterwegs. Silvesterknallerei mit dem Papa werden sie nie erleben, verspricht er. Er weiß, was dabei passieren kann. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

„Es tat zuerst gar nicht weh“, erinnert sich der junge Gärtner. Nur weil die Kumpel entsetzt brüllten, „eh, dein Finger ist weg, der ganze Finger“, schaute er hin – und kippte auf der Stelle um. Ein Krankenwagen brachte ihn ins Bochumer Bergmannsheil. Das Berufsgenossenschaftliche Universitätsklinikum ist spezialisiert auf Handverletzungen. Noch in der Nacht wurde er operiert, sein Arm dazu mittels einer „Plexus-Anästhesie“ betäubt – Vollnarkosen werden in solchen Nächten selten gemacht, nüchtern landen die wenigsten auf dem OP-Tisch. Das Geräusch der Zange, mit der die Ärzte seine Knochen kürzten, um ordentliche Stümpfe formen zu können, habe er noch heute im Kopf, beteuert B..

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Von seinem Zeigefinger blieb dem heute 23-Jährigen nicht einmal die Hälfte, auch der Daumen ist kürzer als zuvor; sein Mittelfinger konnte gerettet werden, dicke Narben zeugen davon, dass das nicht einfach gewesen sein kann. „Ich hatte sehr viel Glück im Unglück“, sagt Sebastian B., „es hätten auch alle fünf Finger weg sein können.“

„Die ganze Hand!“, korrigiert ihn Prof. Marcus Lehnhardt, Direktor der Universitätsklinik für Plastische Chirurgie und Handchirurgie am Bochumer Bergmannsheil, zu der auch das Schwerbrandverletztenzentrum gehört. Viele trügen Schäden davon, unter denen sie ein Leben lang litten. Das Problem: Explodiert ein Feuerwerkskörper in der Hand, ist oft nicht mehr viel zu retten von dieser Hand. „Die Strukturen werden komplett zerfetzt, da gibt es meist nichts mehr zu rekonstruieren, ganz anders als bei sauberen Messer- oder Schafott-Verletzungen.“ „Warum habt Ihr deinen abgetrennten Finger nicht eingesammelt? Dann hätten ihn die Ärzte wieder annähen können“ – Diese Frage, erzählt Sebastian B., habe er viel zu oft gehört. „Da war ja kein Finger mehr, da war nichts mehr.“

Prof. Marcus Lehnhardt leitet die Klinik für Plastische Chirurgie und Handchirurgie am Bochumer Bergmannsheil, einem Berufsgenossenschaftlichen Universitätsklinikum.
Prof. Marcus Lehnhardt leitet die Klinik für Plastische Chirurgie und Handchirurgie am Bochumer Bergmannsheil, einem Berufsgenossenschaftlichen Universitätsklinikum. © Essen | Lars Heidrich

Drei Wochen lag er damals im Krankenhaus; monatelang machte er Krankengymnastik; die Phantomschmerzen in den verlorenen Gliedmaßen plagten ihn noch jahrelang. Nicht einmal einen Joghurt habe er anfangs mit der rechten Hand löffeln können, erzählt B. Doch er trainierte fleißig, kommt heute auch als Rechtshänder wieder gut zurecht. Einzig mit dem „frickeligen Verschließen der Pampers“ kämpfe er noch gelegentlich, erzählt der zweifache Vater („das dritte kommt im März“); seine Schrift finde er heute sogar schöner als früher. „Es gibt Tage“, sagt B., da denke ich gar nicht mehr an das, was fünf Jahren passiert ist. Nur wenn ich dann plötzlich auf meine Hände gucke, erschrecke ich mich noch immer.“

Und die Vorgeschichte ist immer dieselbe: Alkohol und Übermut
Prof. Marcus Lehnhardt - Direktor der Klinik für Plastische Chirurgie und Handchirugie am Bochumer Universitätsklinikum Bergmannsheil

Marcus Lehnhardt, der Chirurg, hat schon viel Schlimmes gesehen in Silvesternächten. Neben zerfetzten Händen, auch Hände, die ganz verloren gingen; Schnittverletzungen nach Stürzen und Verbrennungen durch fehlgeleitete Raketen seien ebenfalls „typisch“. „Und die Vorgeschichte ist immer dieselbe“, erklärt der Arzt: „Alkohol und Übermut.“

„Polen-Böller, wie der, den ich gezündet habe“, ergänzt B., „kriegt man in Deutschland gar nicht.“ Sie enthalten mehr Sprengstoff als hier erlaubt ist. B. besorgte seine bei einem Urlaub in seiner Heimatstadt Kattowitz. Warum? „Wir fanden die super, weil die so heftig laut sind, viel lauter als China-Böller.“ „Kaufen Sie Feuerwerk nur im Fachhandel, nutzen Sie nur geprüfte Ware – und lassen Sie die Finger von selbstgebastelten oder manipulierten Böllern“, warnt Experte Lehnhardt. Vor allem aber rät er: „Böllern Sie nie, wenn Sie getrunken haben!“

B. ist heute „peinlich“, wie dumm er damals war. Doch er will es erzählen, um andere vor Verletzungen zu bewahren, „mit 17 macht man sich ja keinen Kopf“. Er selbst hat seit jenem Neujahrsmorgen keinen Böller mehr in die Hand genommen. Keiner seiner Kumpel, die dabei waren, hat das, sagt B.; „war wohl zu krass auch für die.“ Mit einer Wunderkerze in der Hand wird er in diesem Jahr am Fenster stehen und sich das Feuerwerk draußen angucken.

Im Bergmannsheil werden sie auch in dieser Silvesternacht die Notaufnahme wieder personell aufstocken.