Essen. In NRW werden vermehrt Fälle von sexueller Gewalt in Kitas gemeldet, verursacht durch Kinder. Wie Eltern mit Kindern über das Thema sprechen.

Kindliche Doktorspiele oder schon sexueller Übergriff? In Kitas in Nordrhein-Westfalen werden mehr Fälle von sexueller Gewalt registriert. Bemerkenswert ist dabei: Die Übergriffe werden vorwiegend durch Kinder verübt.

Aktuelle Zahlen des NRW-Familienministeriums zeigen: Während den Landesjugendämtern im vergangenen Jahr 128 Fälle gemeldet wurden, waren es im Jahr 2023 (bis einschließlich Oktober) schon 190 gemeldete Fälle. Das Ministerium weist darauf hin, dass die meldepflichtigen Ereignisse nicht automatisch schwerwiegende Hinweise auf sexuelle Übergriffe sind.

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Wie können Eltern mit ihren Kindern über das sensible Thema sprechen? Der Verein Zartbitter mit Sitz in Köln ist eine Kontakt- und Informationsstelle gegen sexuellen Missbrauch an Mädchen und Jungen. Er beschäftigt sich schon seit Jahrzehnten mit dem Thema. Laura Lindemann hat mit Dipl. Pädagogin Ursula Enders vom Verein Zartbitter über mögliche Ursachen gesprochen und darüber, wie Eltern handeln sollten.

Kita-Kinder in NRW: Immer öfter mit sexueller Gewalt durchs Handy konfrontiert

Frau Enders, wie erklären Sie sich die deutliche Zunahme an gemeldeten Fällen von sexuellen Übergriffen durch Kinder an Kindern?

Ursula Enders: Immer mehr junge Kinder sind durch das Smartphone mit sexueller Gewalt konfrontiert. Etwa durch ältere Geschwister, oder aber auch, weil sie mit den Handys ihrer Eltern spielen. Es kommt vor, dass Kinder im Vorschulalter ihre Genitalien mit dem Handy filmen und sie ihren Freundinnen und Freunden zusenden. Oder dass sie mit einer Kinder-Kamera in die Kita kommen und andere Kinder auf der Toilette filmen. Sexuelle Übergriffe auch durch junge Kinder nehmen zu. Allein Zartbitter Köln wird jährlich in etwa 200 Fällen um Beratung gebeten.

Gleichzeitig gehe ich davon aus, dass es sexuelle Gewalt durch Kinder schon immer gegeben hat. Heute wird sie nur viel früher als solche wahrgenommen. In der Vergangenheit wurden die Übergriffe häufiger als harmlose Doktorspiele abgetan.

Wo hören kindliche Doktorspiele auf und wo fangen sexuelle Übergriffe an?

Wir unterscheiden zwischen sexuellen Grenzverletzungen und sexuellen Übergriffen. Grenzverletzungen sind Ausdruck kindlicher Neugierde. So wie Kinder sich gerne gegenseitig Perlen in Ohren und Nasenlöcher stecken, stecken sie sich auch Gegenstände in Vagina und Anus. Oft sind die Kinder dann jedoch geschockt, wenn sie merken, dass es dem anderen Kind weh tut. Betroffene Kinder und auch die übergriffigen Kinder wenden sich dann meist an die Erzieherin und bitten um Unterstützung.

Sexuelle Übergriffe hingegen erkennt man unter anderem daran, wenn Grenzverletzungen trotz pädagogischer Maßnahmen nicht aufhören. Oft handelt es sich dabei um gezielte Aktionen. Ich erinnere mich an einen Fall, bei dem ein Kind andere aus der Kitagruppe immer wieder in ein Baumhaus gelockt und den Eingang mit Tüchern verhangen hat. Dort hat es den anderen Kindern dann Stöcke in den Po gesteckt. Übergriffige Kinder haben in der Regel kein Empfinden dafür, dass sie ein anderes Kind mit ihren Taten belasten.

Ursula Enders vom Verein Zartbitter mit Sitz in Köln berät Eltern aus NRW, wie sie mit ihren Kindern umgehen, die Opfer von sexuellen Übergriffen durch andere Kinder in der Kita geworden sind.
Ursula Enders vom Verein Zartbitter mit Sitz in Köln berät Eltern aus NRW, wie sie mit ihren Kindern umgehen, die Opfer von sexuellen Übergriffen durch andere Kinder in der Kita geworden sind. © FFS / www.marius-becker.com | Marius Becker

Was können weitere Gründe für sexuelle Übergriffe sein?

In vielen Fällen haben die Erzieherinnen und Erzieher keine Regeln für Doktorspiele aufgestellt. Sexuell übergriffiges Verhalten von Kindern kann in den meisten Fällen über Pädagogik gestoppt werden. Aber wir haben auch Kinder, bei denen sich dieses Verhalten schon verfestigt hat. Andere Kinder geben Hinweise auf eigene Gewalterfahrungen, indem sie nachspielen, worüber sie nicht spreche können.

Manchmal verhalten sich auch Fachkräfte selbst übergriffig. (Anm. Red.: 2022 wurden den Landesjugendämtern 82 Fälle gemeldet). In diesen Fällen muss immer eine von der Einrichtung unabhängige Fachkraft hinzugezogen werden.

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Woran merke ich, ob mein Kind von Übergriffen betroffen ist?

Für Mütter und Väter kann es ein Hinweis sein, wenn sich ihr Kind grundsätzlich weigert, in die Kita zu gehen. Dann ist es ratsam, den Kontakt zu anderen Eltern zu suchen und nach ähnlichen Erfahrungen zu fragen. Andeutungen von Kindern sollte man nicht bagatellisieren, sondern genau hinhören. Zudem sollte man immer offene Fragen stellen, damit das Kind frei erzählen kann und ihm keine Handlungsabläufe in den Mund legen.

Sexuelle Gewalt durch Kinder: Situation erst einmal sachlich bewerten

Wie können Eltern am besten mit ihrem Kind über mögliche Vorfälle sprechen?

Wichtig ist, dass Gespräch mit einer gewissen Leichtigkeit zu führen und dem Kind bloß keine Panik zu machen. Man kann dem Kind etwa sagen, dass das bestimmt ein blödes Geheimnis ist, was sie da mit sich herumtragen und dass man blöde Geheimnisse immer weitererzählen darf.

Zudem ist es wichtig, die Kinder zu fragen, wem sie sich am besten anvertrauen können. Um Sie als Eltern zu schützen, wird das Kind vermutlich nicht direkt zu Ihnen kommen.

Oft vertrauen sich Kinder Gleichaltrigen an, die sich dann wiederum an ihre Eltern wenden.

Wenn das Kind doch den Kontakt zu den Eltern sucht, rate ich ihnen, erst einmal eine Tasse Kaffee zu trinken und eine Runde um den Block zu gehen. Es ist wichtig, in so einem Moment besonnen zu handeln und dem Kind gegenüber Ruhe auszustrahlen. Denn sobald das Kind im Gesicht der Eltern den Schrecken sieht, wird es verstummen, um sie nicht zu belasten. Anschließend sollten Mütter und Väter die Situation sachlich bewerten und das Kind trösten. Sätze wie „das ist aber doof, so etwas darf niemand mit dir machen“, können helfen, um ins Gespräch zu kommen.

Und von welchen Reaktionen raten Sie ab?

Wenn Eltern die Vermutung eines Übergriffes haben, sollte sie nicht sofort in die Kita stürzen. Zuerst einmal muss geprüft werden, ob es sich um das Fehlverhalten eines einzelnen Kindes handelt oder ob ein pädagogischer Fehler der Kita vorliegt. Deshalb sollten sich Eltern erst einmal an einen externen Experten wenden, etwa eine der Fachstellen gegen sexuelle Gewalt, die das Familienministerium fördert.

Zudem ist es kontraproduktiv, wenn Eltern und Erzieher mit ihren Kindern üben, wie man Nein sagt. Denn bei einem Übergriff sind Kinder häufig so geschockt, dass sie gar nichts mehr sagen können. Oft fühlen sie sich dann im Nachhinein mitschuldig an dem Übergriff. Dreht sich das Kind weg, macht eine Schnute, schüttelt sich oder macht sich steif? Das sind Anzeichen dafür, dass das Kind sich in der Situation unwohl fühlt. Vermittelt Sie Ihrem Kind, dass andere Menschen auch ein Nein ohne Worte ernstnehmen müssen.

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Das sagt das Land

„Die erhöhte Meldezahl von gemeldeten Fällen zu Gewalt bzw. pädagogischem Fehlverhalten in Kitas zeigen, dass Sensibilisierung, einheitliche Standards sowie verpflichtende Kinderschutzkonzepte wichtige Bausteine der Stärkung des Kinderschutzes sind“, heißt es von einem Sprecher des NRW-Familienministeriums. Gleichzeitig sei Politik und Gesellschaft sensibler geworden und schaue genauer hin. Die Zahlen seien also auch ein Beleg dafür, dass mehr Fälle aufgedeckt würden. Das Land fördert Fachstellen gegen sexuelle Gewalt, insgesamt wurden 150 neue Stellen eingerichtet.