Düsseldorf. 782 Übergriffe im ersten Halbjahr: An NRW-Kitas werden immer mehr Gewalttaten gemeldet. Kinderschutzbund fordert eine unabhängige Untersuchung.
In Kindertagesstätten in Nordrhein-Westfalen werden mehr Fälle von Gewalt und pädagogischem Fehlverhalten registriert. Während die Kita-Träger im Jahr 2021 noch 702 solcher Fälle an die Landesjugendämter meldeten, waren es im Folgejahr 2022 bereits 1011, wie aus der am Montag verbreiteten Antwort von NRW-Familienministerin Josefine Paul (Grüne) auf eine Anfrage aus der SPD-Fraktion hervorgeht. Der Kinderschutzbund NRW schloss sich der SPD-Forderung nach einer unabhängigen Untersuchung der Ursachen an.
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Im ersten Halbjahr 2023 gingen demnach bereits 782 Meldungen aus den Kitas ein, mehr als im gesamten Jahr 2021. Laut Paragraf 47 des Sozialgesetzbuches müssen Träger von Kindertagesstätten Ereignisse, die geeignet sind, das Wohl der Kinder zu gefährden, unverzüglich der zuständigen Behörde melden. In NRW sind dies die bei den Landschaftsverbänden Rheinland und Westfalen-Lippe angesiedelten Landesjugendämter.
Gewalt durch Mitarbeiter und Gewalt von Kindern
Bei den 1011 Fällen im Jahr 2022 wurde den Angaben zufolge über 600-mal die Gewalt durch Mitarbeitende der Einrichtungen ausgelöst. Enthalten sind in dieser Zahl demnach 82 sexuelle Übergriffe oder Gewalttaten, 171 körperliche Übergriffe oder Körperverletzungen und 353 Fälle von pädagogischem Fehlverhalten. Darunter fallen Straf- und Erziehungsmaßnahmen wie zum Beispiel Zwang zum Aufessen oder zum Schlafen, das Isolieren, Fixieren oder Bloßstellen von Kindern oder verbale Drohungen. In rund 400 gemeldeten Fällen ging die Gewalt von den Kindern aus.
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Der SPD-Landtagsabgeordnete Dennis Maelzer verlangte eine schnelle Klärung der Ursachen für den Anstieg der gemeldeten Gewalt in Kindertagesstätten. Er warf der Landesregierung vor, sich gegen die Forderung nach einer unabhängigen Studie zu stellen, um die Hintergründe dieser Entwicklung zu erforschen.
Fachkräftemangel und Überforderung als Ursache?
Nach Einschätzung der NRW-Landesvorsitzenden des Kinderschutzbundes, Gaby Flösser, könnte der Fachkräftemangel und die daraus resultierende Überforderung der Mitarbeitenden „eine entscheidende Rolle spielen“. Eine unabhängige Untersuchung sei auch für die Kita-Träger wichtig, um wirksame Gegenmaßnahmen ergreifen zu können.
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Familienministerin Paul erklärte, man wolle wegen der Komplexität einer solchen Untersuchung zunächst die Ergebnisse der von der Bundesbeauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs geplanten Studie abwarten. Das Ministerium erklärte, die reinen Daten erlaubten „keinerlei qualitative Erkenntnis“ über die Gründe der gestiegenen Zahl an Meldungen. Es sei von einer „erhöhten Sensibilisierung“ bei den Trägern der Kindertagesstätten, den Einrichtungen selbst und den Eltern auszugehen. Diese sei unter anderem durch die Missbrauchskomplexe von Lügde, Bergisch-Gladbach, Münster und Viersen ausgelöst sowie durch intensive Informationen der Landesjugendämter an die Träger.
Die den Meldungen zugrunde liegenden kindeswohlgefährdenden Ereignisse hätten nach Einschätzung der Landesjugendämter in der Regel mehrere Ursachen, betonte Paul. Dabei spiele individuelle Überforderung ebenso eine Rolle wie Personalmangel. Auch mangelnde pädagogische Fähigkeiten oder Aufsichtspflichtverletzungen führt das Ministerium in seiner Antwort auf die parlamentarische Anfrage an. (epd)