Düsseldorf. 85 Jahre nach der Reichspogromnacht fühlen sich Juden in NRW wieder als „Freiwild“. Gemeindechef warnt: „Vor Mob der Straße nicht kapitulieren!“

85 Jahre. Nur die ganz Alten erinnern sich noch, aber die Bilder leben auch bei den Jungen, weitergegeben von Generation zu Generation in den jüdischen Familien: wie die Synagogen brannten, wie Geschäfte in Flammen aufgingen, wie Juden gejagt wurden durch die Straßen auch im Ruhrgebiet. Die Pogromnacht von 1938, lange her?

Diesmal, sagt Oded Horowitz, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde in Düsseldorf, sei die Erinnerung wacher als sonst. Nicht weil Gedenktag ist am 9. November: „Die Menschen haben Angst vor neuen Pogromen.“

Ihre Furcht kriecht durch die Telefonleitungen seit dem 7. Oktober. Seit jenem Tag, als Terroristen der Hamas Israel überfielen, mordeten und folterten, rufen immer mehr Menschen bei den Sorgen- und Vertrauenstelefonen jüdischer Gemeinden in NRW um Hilfe. „Sie haben Angst vor Pogromen“, ist die erste Antwort von Horowitz auf das Warum. Die Bilder vom Flughafen in Dagestan, die von pro-palästinensischen Demonstrationen in Deutschland: „Die Stimmung hat sich spürbar verändert.“

Neue Gewalt? Manche Juden fürchten sich, allein auf die Straße zu gehen

Auch in Duisburg-Ruhrort brennt die Synagoge ab in der Nacht zum 10. November 1938, einem Donnerstag.
Auch in Duisburg-Ruhrort brennt die Synagoge ab in der Nacht zum 10. November 1938, einem Donnerstag. © sammlung mismahl-diepenbrock | Stadtarchiv Duisburg

Die Menschen am Hörer wollen wissen, „wie sie sich schützen sollen“. „Sie haben Angst, einkaufen zu gehen: Sie wissen nicht, ob sie sicher sind im Supermarkt.“ Eltern fragen, ob sie ihre Kinder in jüdische Schulen oder den Kindergarten schicken können. Ältere Menschen brauchen ein mitfühlendes Ohr. Es gibt viele in der jüdischen Gemeinde in Düsseldorf, die erst in den 90er-Jahren aus der ehemaligen Sowjetunion gekommen sind. „Die haben vieles erlebt, was sie belastet“, weiß Horowitz. „Was jetzt geschieht, erinnert sie daran.“

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Sie haben Studierende aus Israel am Telefon, traumatisiert, weil ihre Freunde auf dem Festival „Nova“ überfallen wurden. Die Angst haben, weil sie auf dem Campus bedroht würden. Andere fürchten sich, allein auf die Straßen zu gehen, sprechen Hebräisch oder auch Russisch nur noch zu Hause.

Ein Mann hat Horowitz berichtet, wie er angepöbelt wurde als „Scheißjude“; der Gemeindevorstand ist sicher, das ist mehreren so gegangen. „Aber das ist kränkend, das erzählt nicht jeder weiter.“

„Jetzt weiß man, dass sie Juden sind – und schon läuft das Kopfkino“

Familienvater Horowitz ist gerade wieder bewusst geworden, dass er auf immer anderen Wegen durch Düsseldorf fährt, „um nicht so leicht erfassbar zu sein“. Aber viele Juden seien sorglos gewesen in den vergangenen Jahren, aus einem „Gefühl der Sicherheit“ heraus hätten sich viele „leichter geoutet“ unter Nachbarn, man bekam ja auch Post von der Gemeinde. Wer sollte da Bedenken haben? Aber nun, sagt Horowitz, „sind sie sichtbar, jetzt weiß man, dass sie Juden sind – und schon läuft das Kopfkino“.

Ob man die jüdischen Symbole von den Türen, siebenarmige Leuchter aus den Fenstern nehmen solle, haben sie ihn gefragt. Horowitz mag da nichts raten, natürlich müsse man vorsichtig sein, auf sich selbst aufpassen, aber seine Meinung ist klar: „Wenn wir das tun, dann haben wir dem Mob auf der Straße Recht gegeben, dann haben wir kapituliert.“ An dem Tag, an dem sie sich als Jüdin verstecken müsse, sagt ihm seine Frau, packt sie ihre Koffer und ist weg.

Jüdische Gemeinde: Vorstand vermisst einen „Aufschrei der Anständigen“

Aber wohin? Israel, sagt Horowitz, auch jetzt noch. Das Land bleibe „sicherer Schutzhafen“, Juden wüssten, dass die Armee dort sie beschütze. „In Deutschland haben Juden das Gefühl, dass sie Freiwild sind.“ Die Gefahr, Opfer zu werden, sei groß, „die Sicherheitskräfte können nicht jeden einzelnen bewachen“. In Israel sei das anders, dort könne man sich der gegenseitigen Unterstützung in der Gesellschaft sicher sein.

Oded Horowitz ist auch Vorsitzender des Jüdischen Landesverbands NRW. Er sagt, man müsse all jenen „Grenzen setzen, die Hass verbreiten“.
Oded Horowitz ist auch Vorsitzender des Jüdischen Landesverbands NRW. Er sagt, man müsse all jenen „Grenzen setzen, die Hass verbreiten“. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

In Deutschland vermisst Oded Horowitz einen „Aufschrei der Anständigen“. Nicht mehr nur einen „Aufstand“, wie er ihn vor fünf Jahren forderte im Gespräch mit dieser Zeitung. Die Gesellschaft müsse mehr Zivilcourage zeigen und all jenen „Grenzen setzen, die Hass verbreiten“. Ihnen dürfe man die Straße nicht überlassen. So nämlich wie heute, wo überall zu Tausenden gegen Israel demonstriert wird, so habe es „damals auch angefangen“, findet Horowitz, „mit Unruhe, Spaltung, Stress auf deutschen Straßen“. Man erlebe gerade „ein Déjà-vu: Die Parallelen liegen auf der Hand.“

Gerade die Juden in Deutschland wüssten noch gut, wie das war, 1938, und nicht nur am 9. November. Oder sie haben es von den Alten gehört, wieder und wieder. „Enorme Ängste und Sorgen“ kämen nun wieder hoch. Das Gedenken an die Pogromnacht müsse in diesem Jahr auch deshalb „einen ganz anderen Charakter haben, das muss auch zur Sprache kommen“. Sinn der Erinnerungsveranstaltungen sei immer mehr gewesen als das Nicht-Vergessen, sondern für die Zukunft zu warnen. „Was viele nicht verstehen“, sagt Oded Horowitz mahnend: „Wir sind als Juden immer die ersten.“

Nach dem Terror in Israel: Feierliche Gottesdienste gibt es derzeit nicht

Es sind solche Gedanken, mit denen Juden sich an die Sorgentelefone ihrer Gemeinden wenden, in Düsseldorf, Köln oder Recklinghausen und immer anonym. Aber bei ihren Treffen reden sie doch offener, trösten einander, beten für die Opfer in Israel. Feierliche Gottesdienste, sagt Vorstand Horowitz, gebe es derzeit nicht, auch zu Shabbat seien die Synagogen eher Ort für den Austausch von Informationen, „um nicht allein zu Hause zu bleiben“.

Zwar hat manch einer schon vorgeschlagen, die Synagogen zu schließen, aus Vorsicht. „Aber das“, sagt Oded Horowitz entschlossen, „wäre der Anfang vom Ende des jüdischen Lebens in Deutschland. Dazu bin ich nicht bereit.“

>>VERTRAUENSTELEFONE DER JÜDISCHEN GEMEINDEN IN DER REGION

Das Vertrauenstelefon „Jüdische Hotline“ der Gemeinde in Düsseldorf ist erreichbar unter den Nummern 0211 469 85 20 oder 0211 469 85 21.

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Auch die Gemeinde in Recklinghausen hat eine „Telefonseelsorge“ geschaltet: montags, von 16 bis 18 Uhr, di von 14 bis 16 Uhr, donnerstags von 10 bis 12 Uhr und sonntags von 11 bis 13 Uhr. Die Nummer: 02361 - 58 23 355.