Gelsenkirchen. Aus Sorge um die Sicherheit fällt eine Gelsenkirchener Veranstaltung von Christen, Juden und Muslimen aus. Die Stimmung sei zu aufgeheizt.
Der Termin stand schon ein halbes Jahr lang fest: Am Dienstag, 24. Oktober, wollten Christen, Juden und Muslime zusammen auf einem Friedensweg durch die Altstadt ziehen. „Wir gemeinsam für Frieden“ lautete das Motto. Doch kurz vorher zogen die Beteiligten angesichts von Krieg und Gewalt in Nahost die Reißleine und sagten die Traditionsveranstaltung des interreligiösen Arbeitskreises ab – aus Angst vor Extremisten.
Es war zunächst die Jüdische Gemeinde, die „in Absprache mit der Polizei“ ihre Zusage zur Teilnahme an dem Friedensweg zurückzog, berichtet Arbeitskreis-Sprecherin Britta Möhring auf Nachfrage der Redaktion.
Wieso der Friedensweg der Jüdischen Gemeinde Gelsenkirchen zu gefährlich war
In der aktuell aufgeheizten Stimmung nach dem Terror-Angriff der Hamas auf Juden in Israel am 7. Oktober mit der Geiselnahme von rund 240 Menschen und der Bombardierung des Gazastreifens durch die israelische Armee sei es der Gelsenkirchener Gemeindeleitung zu gefährlich gewesen, ihr Gotteshaus einer größeren Zahl von Unbekannten zu öffnen. „Schließlich ziehen wir nicht nur von Synagoge zu Moschee und Kirche, sondern betreten auch die Gotteshäuser, um dort gemeinsam zu beten.“
Daraufhin sei die Idee aufgekommen, die Veranstaltung am selben Tag als Friedensgebet vor dem Hans-Sachs-Haus durchzuführen. „Wir wollten gerne ein Zeichen setzen, dass wir zusammenstehen“, so Britta Möhring. Wegen Bedenken der Moscheegemeinden sei aber auch die Alternative nicht realisiert worden.
Warum Gelsenkirchener Muslime das öffentliche Friedensgebet absagen wollten
Es gebe unter den Muslimen eine große Verunsicherung, dass Gotteshaus und Gläubige womöglich Ziel von Islamfeinden werden könnten. Deshalb seien auch weniger Menschen zum Freitagsgebet am 20. Oktober erschienen, habe es geheißen. Der Anschlag auf eine Moschee in Bochum-Dahlhausen mit Hakenkreuz-Schmierereien habe auch die Muslime in Gelsenkirchen in Angst und Schrecken versetzt.
Darüber hinaus habe man auf muslimischer Seite befürchtet, dass an dem Friedensgebet Personen teilnehmen könnten, die die Veranstaltung nicht nur etwa durch „Free Palestine“-Rufe stören, sondern auch gewalttätig werden.
Einige Gelsenkirchener wollten Friedensgebet „jetzt erst recht“ realisieren
Serdar Yilmaz von der Hasseler Moschee an der Polsumer Straße, die dem Dachverband Milli Görüs angehört, konkretisierte: „Wir konnten nicht sicher sagen, ob das Friedensgebet auch friedlich beendet wird. Ein Schwarzes Schaf reicht dafür ja aus. Auch die Polizei fand die Veranstaltung nicht ratsam. Außerdem haben wir uns gefragt, ob so ein Gebet Sinn macht, wenn die Jüdische Gemeinde fehlt.“ Er wehrte sich dagegen, Gefahren nur auf islamistischer Seite zu wittern. Gewalt gegen solche Veranstaltungen und gegen Muslime könne genauso gut von radikalen Linken und Rechten ausgehen.
Ob sich die Absage von Friedensweg und -gebet nicht auch als Einknicken gegenüber Radikalen lesen lässt? Möhring und der städtische Integrationsbeauftragte Mustafa Cetinkaya sehen die Gefahr durchaus. „Einige Arbeitskreis-Mitglieder wollten die Veranstaltung deshalb auch unbedingt durchziehen unter dem Motto ,Jetzt erst recht!’ Aber bei den jüdischen und muslimischen Gläubigen überwogen die Sicherheitsbedenken“, so Möhring.
Jüdische Gemeinde Gelsenkirchen vermisst öffentliche Solidaritätsbekundung
Max Mamrotski, Geschäftsführer der Jüdischen Gemeinde, bekräftigt: Was wie Rückzug aussehe, sei Teil seiner Verantwortung für die 300 Gemeindemitglieder vor Ort. „Wir spielen keine politischen Spielchen und laufen auch nicht lautstark durch die Stadt. Das erwarten wir eher von Akteurinnen und Akteuren aus Politik und Gesellschaft.“
Ein Polizeisprecher stellt unterdessen klar: „Auch wenn Gewalt grundsätzlich nicht auszuschließen ist: Wir hätten eine solche Veranstaltung mit entsprechend vielen Kräften geschützt und dafür gesorgt, dass sie stattfinden kann.“ Leitender Polizeidirektor Peter Both persönlich bedauert gar ausdrücklich die Absage.
Dass es bislang keine öffentlichen Solidaritätsbekundungen gegenüber der Jüdischen Gemeinde gegeben habe, bezeichnet Mamrotski als „traurig“. Immerhin hätten Vertreter von christlichen und muslimischen Gemeinden im privaten Gespräch ihre Anteilnahme ausgedrückt. „Damit fühlen wir uns nicht mehr ganz so alleine.“
Gelsenkirchener Arbeitskreis-Sprecherin: „Unterschiedliche Perspektiven aushalten“
Was eine öffentliche Solidaritätsbekundung an die Jüdische Gemeinde angeht, so verweist der städtische Integrationsbeauftragte darauf, dass im Arbeitskreis erst einmal entschieden werden müsse, ob man solch ein Papier abfassen wolle. Und dann müsse man sich auf die Formulierungen verständigen. „Es gibt nun einmal unterschiedliche Perspektiven auf die Ereignisse in Nahost. Das muss man aushalten“, so Möhring. Kurz: Bis zur Veröffentlichung eines Papiers könne es noch etwas dauern.
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Dass etwa die muslimischen Gemeinden vorher schon selbst aktiv werden, kommt zumindest für die Hasseler Moschee-Verantwortlichen nicht in Frage. „Wir würden es begrüßen, wenn die Stadt dafür die Schirmherrschaft übernähme“, lehnt Yilmaz einen Alleingang ab. Der Kontakt unter den Gemeinden sei nicht so eng, argumentiert er.
Britta Möhring von der Evangelischen Apostel-Gemeinde in Bulmke-Hüllen will hingegen nicht mehr abwarten. Sie setzt auf ein gemeinsames Schreiben aller Gemeinden im Kirchenkreis, das der Jüdischen Gemeinde zeitnah ihre Solidarität bekunden soll. Stadtdechant Markus Pottbäcker, Propst in St. Augustinus und St. Urbanus, verweist auf eine Erklärung der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit von Mitte Oktober, die die Pfarrei St. Augustinus auf ihrer Homepage veröffentlicht hat und der St. Urbanus bald folgen will.
2021, als es im Frühjahr zu antisemitischen Ausschreitungen vor der Synagoge gekommen war, hatte der Arbeitskreis eine Solidaritätsbekundung abgefasst.