Ruhrgebiet. Die Pogromnacht 1938 war eine Nacht der Gewalt, der Brandstiftung und Demütigung. 127 Menschen starben auf NRW-Gebiet. Was im Ruhrgebiet geschah.

Eine namenlose Hofeinfahrt in der Bochumer Innenstadt. Wolfgang Dominik geht hinein, gelangt in einen verwechselbaren Innenhof, dreht sich um zu seiner Gruppe und breitet die Arme aus: „Hier ungefähr war der Eingang zur Synagoge“, sagt der Stadtführer. Er steht im Nichts.

Die Stele, die an die Synagoge erinnert, ist vielleicht 100 Meter entfernt, dort, wo tatsächlich viele Leute laufen. Augenzeugen gibt es vermutlich nicht mehr, die in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 die Synagoge brennen sahen. Sie brennen damals auch in Hattingen, in Witten und Herne, in Essen und Duisburg - und überall.

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Die Nazi-Propaganda wird die Reichspogromnacht als „spontanen Ausbruch des Volkszorns“ beschreiben, doch in Marxloh beginnt er damit, dass die Feuerwehr Schläuche verlegt. Sie soll die Wohnhäuser von Deutschen schützen, wenn den jüdischen Deutschen gleich ihr Gotteshaus angesteckt wird.

„Einige Zeit später“, so wird sich eine Augenzeugin erinnern, „wurde die Tür zur Synagoge von einigen Männern aufgebrochen, die SS- oder SA-Uniformen trugen“. Sie holen Benzin und Petroleum und entfachen den Brand. Die Feuerwehr guckt zu.

„Meine Frau und ich wurden blutig geschlagen“

Nachbarn bedienen sich beim Hausrat der Ausgeplünderten. Hier ein Bild aus Düsseldorf.
Nachbarn bedienen sich beim Hausrat der Ausgeplünderten. Hier ein Bild aus Düsseldorf. © Stadtarchiv Düsseldorf

Solche Beschreibungen gibt es aus vielen Revierstädten. Sie machen deutlich, dass die Pogrome befohlen, organisiert und gesteuert worden sind. Es ist eine Nacht der Gewalt und der Brandstiftung, der Plünderung und der Demütigung und der Festnahmen.

Samuel Cohen, Gladbeck: „Im November 1938 wurde das Geschäft sowie die Einrichtung unserer Privatwohnung durch die Nazis zertrümmert und geplündert. Meine Frau und ich wurden blutig geschlagen und in ein Gefängnis geschleppt. 1939 wurde ich vor die Gestapo geladen, und es wurde mir eine kurze Frist zur Auswanderung gegeben.“ Der Mann überlebt in Großbritannien, die Familie schafft es nur bis Holland. Die Mörder holen sie dort später ein.

„Schwarze Massen in langen, schwarzen Gummimänteln“

Paul Blümke, Duisburg: „Am Vormittag nach der sogenannten Kristallnacht kehrte ich gegen 8 Uhr vom Dienst (als Straßenbahnfahrer) zurück. Auf dem Weg hatte ich schon beobachtet, dass Wohnungen von Juden und deren Einrichtungen verunstaltet worden waren. Vor dem Haus der Gebrüder Mandel lagen Bettzeug und Möbel. Ich sah, wie ein Lastkraftwagen mehrfach über die auf der Straße liegenden Sachen fuhr.“

Leo Gompertz, Gelsenkirchen: „Als die Kristallnacht anbrach und sich die ,kochende Volksseele’ nur dadurch zeigte, dass die schwarzen Massen in langen, schwarzen Gummimänteln, mit langen Brechstangen versehen, die Fenster der jüdischen Geschäfte zertrümmerten, wartete ich auf Abholung in die sogenannte Schutzhaft . . . Mit 13 anderen fand ich Unterkunft in einer Zelle, manche blutig geschlagen.“

„Ich habe nie wieder etwas von der Familie gehört“

Wolfgang Dominik führt seit vielen Jahren Interessierte zu Spuren jüdischen Lebens in Bochum. In der Hand hält er ein Bild des damaligen Oberbürgermeisters Otto Ruer. Er war übergetreten vom Judentum zum Protestantismus, aber das änderte nichts in den Augen der Nazis. Ende 1933 brachte er sich um.
Wolfgang Dominik führt seit vielen Jahren Interessierte zu Spuren jüdischen Lebens in Bochum. In der Hand hält er ein Bild des damaligen Oberbürgermeisters Otto Ruer. Er war übergetreten vom Judentum zum Protestantismus, aber das änderte nichts in den Augen der Nazis. Ende 1933 brachte er sich um. © FUNKE Foto Services | Jakob Studnar

Hilde Auerbach, Recklinghausen: „Einer von ihnen war so betrunken, dass er sich anbot, mit Hilda ins Bett zu gehen. Hilda versuchte, mit dem Kind auf dem Arm die Balkontür zu öffnen, um so zu entkommen. Sie konnte die Tür nicht öffnen . . . Und dann fing das Kind an zu lachen, ein irres Lachen, das Lachen einer geistig verwirrten Person.“

S. (anonym): „Kaum war die Tür geöffnet, stürmte diese Horde in die Wohnung der Familie Gutgold, zerschlug die Möbel und verhaftete die Familie mit ihren Kindern Evi und Leo. Ich habe nie mehr von der Familie gehört . . . Am Tag sah ich dann: Die mit judenfeindlichen Parolen beschmierten jüdischen Geschäfte wurden mit Brettern vernagelt.“

1933 lebten in Bochum 1200 jüdische Deutsche - in der Stadt überlebten drei

Bei dem Kaufmann Leo Baer (Bochum) drang das Rollkommando gegen 5 Uhr ein. Die Männer verwüsten die Büros im Erdgeschoss. „Danach stiegen die Männer die Treppe herauf, sie schrien: Volksverräter, komm mit herunter.“ Dann gingen sie mit der Brechstange auf ihn los. Er wurde gezwungen, zu unterschreiben, das nichts beschädigt wurde.

Nach einer neueren Untersuchung aus Düsseldorf starben an den Pogromen auf dem Gebiet des späteren Bundeslandes Nordrhein-Westfalen 127 Männer und Frauen. Danach haben die Mörder in der Nacht zehn Menschen erschossen, erstochen oder ertränkt; 44 starben an Folgen und Spätfolgen der Misshandlungen: 42 brachten sich um aus Verzweiflung und Schutzlosigkeit; 31 in der Nacht verhaftete jüdische Männer starben im KZ oder an den Folgen der KZ-Haft. Die Zahl der Toten im ganzen Reich ist vierstellig.

1933 lebten in Bochum, wo diese Geschichte begann, rund 1200 Deutsche jüdischen Glaubens. 300 von ihnen nahmen die Morddrohungen der Nazis ernst und emigrierten bis Kriegsbeginn. Am Kriegsende gab es drei Überlebende in der Stadt, die versteckt worden waren, sowie nach und nach einige Rückkehrer aus KZs und aus dem Exil. Zur Gründung einer neuen jüdischen Gemeinde gab es nicht die vorgeschriebenen zehn Männer: So entstand sie gemeinsam für Bochum, Herne und Hattingen. Dann hatten sie zehn.