Ruhrgebiet. Beim Weihnachts-Hochwasser treten die Flüsse erneut über die Ufer. Und neuer Regen ist angesagt. Wo das eigentliche Problem liegt.
Gerade fließt das Wasser wieder ab, aber was wird am Wochenende? Fest steht wohl: Es wird weiter regnen. Noch gibt es für das Weihnachts-Hochwasser nicht wirklich Entwarnung, da droht schon wieder eines zu Silvester. Dabei war das Jahr 2023 ohnehin schon das feuchteste seit Beginn der Wetteraufzeichnungen im Jahr 1881, sagt der Deutsche Wetterdienst. Und hat die Feiertage noch gar nicht mitgerechnet. Wohl aber die 14 „Starkregenereignisse“ im Ruhrgebiet, die die Emschergenossenschaft schon im September zählte. Und: „Es gibt keinen absoluten Schutz“, warnte Vorstandschef Prof. Uli Paetzel damals, „es wird ihn nicht geben.“
Autobahnen, Stadtteile, Parks unter Wasser: Das war Tief „Lambert“ in der Nacht vom 22. auf den 23. Juni, vor allem in Duisburg. Eine Kleingartenanlage, ganze Straßen abgesoffen: Das war das Gewitter am 9. Juli, vor allem in Essens Nord-Westen. Eine Wohnsiedlung überschwemmt, schwimmende Autos, hochschießende Gullydeckel: Das war das Unwetter am 16./17. August, wieder mal in Essen. Nur drei von 14 „Starkregenereignissen“ im Revier, noch nie hat die Emschergenossenschaft so viele schwere „Jahrhundert-Niederschläge“ gezählt wie 2023. Allein an fünf Tagen waren Niederschlagsmengen gemessen worden, die größer waren als alle in den vergangenen 100 Jahren – und da lag Weihnachten mit Sturmtief „Zoltan“ noch ein Vierteljahr entfernt.
„Die aktuelle Hochwasserlage“, sagt Paetzel nun am Mittwoch dieser Zeitung, „bestätigt unsere bereits vielfach geäußerte Prognose, dass wir in Folge des Klimawandels immer häufiger Regenereignisse erleben werden, deren Folgen wir heute kaum einschätzen können.“ Man sehe sich auch darin bestätigt, „dass wir bereits nach dem Juli-Hochwasser 2021 frühzeitig Planungen zur weiteren Verbesserung des Hochwasserschutzes an Emscher und Lippe begonnen haben und weiter fortführen müssen“.
„Wir müssen mehr machen, es wird nicht mehr reichen“
Die Werte, die Statistiker der Emschergenossenschaft und des Lippeverbandes (EGLV) für Juni, Juli und August vorlegten, sprechen für sich: Zwischen 1961 und 1990 erlebte das Ruhrgebiet im Schnitt dreieinhalb „Starkregenereignisse“ im Jahr, die schlimmer waren als in 100 Jahren. Von 1991 und 2020 waren es schon 4,4. Und im laufenden Jahr, nur in den acht Monaten von Januar bis August – acht.
Diese Entwicklung wird sich fortsetzen, wissen sie in der Wasserwirtschaft. Weshalb Paetzel ahnt: „Das wird uns überrollen. Wir kommen nicht schnell genug hinterher.“ Zwar schrieben Verordnungen bereits vor, dass bei Neubauten ein Wetterereignis mitgedacht werden muss, wie es nur einmal in 200 oder 250 Jahren vorkommt. Die Emschergenossenschaft denkt schon länger in 100 Jahren. Allein: Um die Region klimarobust zu gestalten, glaubt Vorstandschef Paetzel, benötige man „dringend mehr Flächen für Notpolder und Rückhalteräume“.
Emschergenossenschaft warnt: „Das System ist nicht vorbereitet“
Zusätzliche Pegel, mehr Krisen-Übungen, höhere Deiche – es passiert schon viel bei der EGLV, seit dem Emscherumbau, rechnet die Genossenschaft vor, habe sie bereits fünf Millionen Kubikmeter zusätzlicher Überlaufflächen geschaffen. Das sei „keine Frage des Geldes“, sagt Paetzel. Das Problem sei die Verfügbarkeit der Flächen, die „Flächenkonkurrenz“: Für weitere Polder, Rückhaltebecken, Auen bräuchte die Region mindestens noch einmal halb so viel Fläche, hochgerechnet Tausende Hektar – das Format einer Kleinstadt wie Herten. Die zu bekommen, sei entscheidend. „Aber die Eigentümer haben meist andere Interessen.“ Wohnbebauung, Gewerbeflächen, Landwirtschaft… „Das System“, mahnt Paetzel, „ist nicht vorbereitet.“
Zudem dauere die Planung viel zu lange. Drei bis fünf Jahre für ein Planfeststellungsverfahren seien zu viel, wenn die Zahl der Starkregen weiter steige. Schwachstellen entlang der Emscher, etwa in der Welheimer Mark in Bottrop, in Dinslaken oder im Holtener Bruch sind ja längst erkannt und in der Umsetzung. Als Grund, warum alles dauert, nennt Paetzel schlecht besetzte Behörden und fehlende Digitalisierung. Und ein Beispiel, wo alle an einem Strang zögen: Am Hüller Bach zwischen Bochum und Herne wird gerade ein Rückhaltebecken geplant, das nach ersten Anträgen Ende 2022 schon Anfang nächsten Jahres umgesetzt werden könne. Das Gewässer war im Sommer vor zwei Jahren nur knapp nicht übergelaufen.
Über 80 Liter Regen in einer Gewitternacht
Auch diesmal ist das Emschergebiet – zunächst – einem massiveren Hochwasser entgangen. Trotzdem haben viele Stadtteile unter Extremwetter zu leiden. Tief „Lambert“ brachte dem Gebiet an Emscher und Lippe im Juni durchschnittlich 81 beziehungsweise 91 Liter Regen pro Quadratmeter. Das ist im langjährigen Vergleich nur leicht über dem Durchschnitt, allerdings fiel der Niederschlag nahezu ausschließlich in jener einzigen Gewitternacht. Im Dezember 2023 hingegen dauerregnet es nun schon seit Wochen.
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Im Juli regneten 142 Liter allein auf den Quadratmeter Emscherregion, dabei lag das langjährige Mittel bei etwas über 80 Litern. Damit war der Monat im Gebiet der Emschergenossenschaft einer der zehn nassesten seit 1931. Das gilt auch für den August: Da maß die EGLV wieder durchschnittlich zwischen 120 und 130 Liter, bei einem Vergleichswert von 76 bis 78 Litern. Allein in Hamm meldete eine Messstelle am 6. August mehr als 94 Liter, in Gelsenkirchen am 16. fast 81 Liter. In Essen fielen 47 Liter innerhalb von nur 45 Minuten.
Damit war die mittlere Niederschlagssumme für das von November bis Oktober dauernde sogenannte Wasserwirtschaftsjahr bereits seit August überschritten. Die aktuellen Daten kann die Emschergenossenschaft gerade nicht für die Öffentlichkeit ausrechnen. Der Hochwasserschutz geht vor.