Ruhrgebiet. 30 Jahre nach dem ersten Spatenstich fließt in der Emscher kein Abwasser mehr. Ein historischer Moment, aber fertig ist der Fluss noch nicht.

Die Kloake ist Geschichte, ihr Gestank auch, es soll schon Leute geben, die an sonnigen Tagen dem Fluss bis auf den Grund gucken konnten. Kein Abwasser mehr in der Emscher! Das war die erste gute Nachricht des Jahres. Der historische Umbau ist abgeschlossen, und das pünktlich. Und jetzt? „Jetzt wird alles blau, grün und schön“, sagt Prof. Dr. Uli Paetzel. Der Vorstandsvorsitzende der Emschergenossenschaft sagt so etwas auch zum hundertsten Mal mit einem wirklich strahlenden Lächeln. Aber „es wird“ heißt eben auch: Es ist wie bei allen Baustellen, so richtig fertig sind sie noch lange nicht.

In freudigem Überschwang hat sich Paetzel neulich in die Gummistiefel gestellt und damit mitten in den Fluss, ein Glas Wasser in der Hand. Getrunken aber hat er nicht. Geklärt, aber so „sauber“, wie seine Genossenschaft zu Jahresbeginn jubelte, ist die Emscher nun doch nicht. Sie wird es auch vorläufig nicht werden. Aber aus welchem Fluss in Deutschland sollte und wollte man auch trinken?

Schon schön: der renaturierter Abschnitt der Emscher am Ährenweg in Dortmund-Deusen.
Schon schön: der renaturierter Abschnitt der Emscher am Ährenweg in Dortmund-Deusen. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Fünfeinhalb Milliarden Euro in 30 Jahren

Jedenfalls aber ist es so: Die Abwässer des Ruhrgebiets, die 170 Jahre lang über diesen Wasserweg nach Westen schwappten und sichtbar wie riechbar alles mit sich trugen, was in Fabriken und privaten Haushalten abfiel, sind ab sofort unter der Erde versteckt. Der Weg ist der gleiche, nun aber fließt die Brühe durch einen mehr als 50 Kilometer langen Kanal von Dortmund bis Dinslaken. 30 Jahre lang hat es seit dem ersten Spatenstich gedauert, diesen toten Fluss vom Dreck zu befreien, fünfeinhalb Milliarden Euro gekostet. Klär- und Pumpwerke sind entlang der Strecke entstanden. Und auch die ebenso schmutzigen Zuflüsse haben ihre eigenen unterirdischen Rohre bekommen, 430 Kilometer insgesamt lang. Das, erzählt die Emschergenossenschaft gern, entspreche der Distanz von Essen nach Paris.

Es war gewissermaßen die zweite Kanalisierung der Emscher und ein Jahrhundertprojekt. Dabei war die erste vor mehr als 100 Jahren schon eine technische Meisterleistung. Damals hatten das Revier die Emscher so zugemüllt, dass sie die Menschen im Ruhrgebiet mit Cholera und Typhus bedrohte. Der Fluss wurde vertieft, sein Bett betoniert, unterirdisch ging zu jener Zeit noch nicht: Der Bergbau mit seinen Senkungen hätte die Rohre zerrissen. Nach dessen Ende aber geht es nun doch: das Abwasser unten, Quell-, Regen- und zu 80 Prozent geklärtes Flusswasser oben. „Vermutlich“, sagt Uli Paetzel, „konnten es sich einige Menschen bis zuletzt nicht wirklich vorstellen.“

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Das Wasser ist geklärt, aber nicht wirklich sauber

Viele können es noch immer nicht; der Regen der vergangenen Tage hat schon wieder braunen Modder aus den Rückhaltebecken in den Fluss gespült. Und die wirklich schlimmen Stinke-Tage fielen meistens in den Sommer. Bei klarem Wetter aber kurz vor dem Jahreswechsel konnte man es in Oberhausen oder im Essener Norden schon sehen: Da liegen Steine am Boden! Und es schwimmen nur noch Enten: Parallel zum Kanalbau sind ja schon 150 Kilometer Bachläufe renaturiert worden. Die Artenvielfalt an der Emscher, Vögel, Insekten, Fische, hat sich seit Baubeginn bereits verdreifacht.

Emschergesetz schrieb den Abschluss des Umbaus für Ende 2021 vor

Ein Prosit auf den „sauberen“ Fluss: Prof. Uli Paetzel (Vorstandsvorsitzender, r.) und der Technische Vorstand Dr. Emanuel Grün.
Ein Prosit auf den „sauberen“ Fluss: Prof. Uli Paetzel (Vorstandsvorsitzender, r.) und der Technische Vorstand Dr. Emanuel Grün. © Emschergenossenschaft | Henning Maier-Jantzen

Natürlich war es auch bei dieser Baustelle so wie auf jeder anderen: Bis zur letzten Minute haben sie gewerkelt, noch bis zum 30. Dezember. Letzte Arbeiten in Oberhausen, ein letztes Rohr in Herne, 62 letzte „Umschlüsse“ an das unterirdische System in den letzten vier Monaten, 90 Millionen investierte Euro allein im November – und dann fiel kurz vor Weihnachten auf, dass eine Gerberei in Herne noch gar nicht angeschlossen war… Dabei mussten sie fertig werden, es steht so im Emschergesetz. Kampfmittelfunde, fehlende Genehmigungen, der Schutz der Wasserralle hatten den Workflow schon zuvor immer wieder aufgehalten, zum Schluss fehlten Holzverschalungen und Teile für die Steuertechnik: nicht lieferbar wegen der Pandemie… Mit Mann und Maus, sagt Paetzel, habe das Team noch „zwischen den Jahren“ Hand angelegt, ein Schlussspurt! Im letzten von 30 Projekt-Jahren gab die Emschergenossenschaft auch das meiste Geld aus: 700 Millionen.

Und das hört nicht auf. 300 bis 400 Millionen Euro im Jahr sollen auch künftig investiert werden, mindestens im kommenden Jahrzehnt. Der Hochwasserschutz wird ausgebaut, Deiche werden erhöht, Kläranlagen bekommen, nach EU-Vorschrift, eine vierte Reinigungsstufe, damit auch Rückstände von Medikamenten den Fischen nicht mehr auf die Fruchtbarkeit schlagen. Und die Renaturierung läuft ja weiter: Betonsohlen werden entfernt, Böschungen gestaltet, der begradigte Fluss kriegt neue Kurven. In Dortmund, Oberhausen, Castrop-Rauxel wachsen, im wahren Wortsinn, ganze Auen-Landschaften. Lieblingsplätze, Herr Paetzel? Da zählt der Chef sie gleich alle auf.

Wildpferde, Wein und ein neues Hotel im Rohr

Dazu gibt es Projekte, die schon in der Mache oder noch Wunschträume sind. Im Sommer endlich sollen Rhein- und Emscherdeich geöffnet werden, damit der eine Fluss in den anderen fließen kann (und die Fische flussaufwärts schwimmen können). 130 Kilometer Radwege, einst noch gar nicht mitgeplant, sind schon fertig, viele weitere sollen es werden. Zwar wird die Emscher auf weiten Strecken eingezäunt bleiben müssen, aber wo es geht, soll ihr Ufer geöffnet werden für die Menschen. Bei Dortmund und Castrop-Rauxel soll nach Bottrop ein zweites Hotel in Kanalrohren entstehen, in den Emscherbruch bei Recklinghausen könnten Wildpferde ziehen, und dann braucht die Emscher- auch eine Winzergenossenschaft: Zu zwei Weinbergen in Dortmund wächst bald ein 2,5 Hektar großer Wingert bei Castrop-Rauxel. Von 10.000 Flaschen binnen drei bis fünf Jahren träumt Prof. Paetzel.

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Und das muss gefeiert werden, endlich: Die Pandemie hatte zuletzt alle Einweihungsfeiern klein gehalten, auch die historische Fertigstellung des Umbaus feierte die Chefetage mit dem Glas Wasser im Fluss recht allein. Im Sommer 2022 aber, das verspricht Uli Paetzel, „da werden wir etwas zaubern“.

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Geplant und wesentlich finanziert wurde der Emscher-Umbau durch eine einzigartige Partnerschaft: In der Emschergenossenschaft ziehen Bergbaugesellschaften, Industrieunternehmen, vor allem aber die Kommunen entlang des Flusses an einem Strang. Ein Vorbild, wie Prof. Uli Paetzel findet: Man habe aus dem Projekt gelernt, müsse das für die Zukunft des Ruhrgebiets nutzen. Etwa im Öffentlichen Personennahverkehr gebe es dringenden Handlungsbedarf, warum dieses Problem nicht mit einer ähnlichen „Allianz für die Infrastruktur“ angehen: „Wenn wir das nicht hinkriegen, wer dann?“