Essen. Über libanesische Jugendliche wird geredet, wenn es Tumulte gibt. Aber welche Träume haben sie, welche Zwänge? Zu Besuch auf dem Rattenparkplatz.
„Und was wollt ihr werden?“
Wir stellen diese Frage auf dem „Rattenparkplatz“. Dort, wo Jugendliche neben Dealern und Süchtigen abhängen, weil ihre Familien in zu kleinen Wohnungen hausen. Wo entsorgter Gastronomiemüll besagtes Tier in Massen anlockt. Der Rattenparkplatz liegt in Essen zwischen der Uni, Industrie und dem Viehofer Platz, wo Drogen ebenfalls leicht zu bekommen sind. Ein Teil der Parkfläche heißt nun für ein paar Monate „Platz der Jugendkultur“, es ist eine Anstrengung vieler Institutionen und Bürgervereine wie dem „Club Kohlenwäsche“. Streetworker sammeln zum Beispiel Müll mit den Jugendlichen, die dafür ein Taschengeld von der Vonovia bekommen, man trinkt Tee miteinander oder spielt Basketball. Die Ratte aber bleibt das selbstironische Maskottchen.
Welche Hoffnungen haben diese Kinder und Jugendlichen, welche Zwänge? Sie sind zwischen zehn und 17 Jahre alt, haben einen libanesischen Hintergrund, einen syrischen oder kurdischen, tunesischen, marokkanischen oder deutschen, manchmal einen rumänischen. Sie verstehen sich gut untereinander, sagen sie selbst und sagen die Sozialarbeiter. Man spricht meist über sie – wenn im Freibad die Wogen hochgehen oder wenn es um Jugendkriminalität geht. Selten spricht man mit ihnen. Also: „Was wollt ihr mal werden?“
Berufswunsch: Bob, der Baumeister
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„Profiboxer“, sagt einer der jüngsten, Fußballer ein etwas älterer. „Drogendealer“, ruft der Vorwitzigste. Da ist wieder diese Ratten-Ironie. „Bob, der Baumeister“, korrigiert er auf Nachfrage und erklärt dann im Ernst, dass er es im Handwerk versuchen möchte, welches weiß er noch nicht. „Feuerwehrmann“, sagt sein Kumpel, um die 15 Jahre alt. „Ich will Menschen retten. Feuer, Not, Sie wissen schon.“
Feuerwehrmann – das ist kein komplett unrealistisches Ziel, aber der Weg dorthin wird kein leichter sein. Der Junge besucht eine Förderschule und muss in diesem Lernumfeld den Hauptschulabschluss schaffen. Dann wird er eine Ausbildung finden und durchziehen müssen, bevor er sich bei der Feuerwehr bewerben kann. „Wie bist du auf der Förderschule gelandet?“ – „Vorher war ich auf der Realschule.“ – „Und dann?“ – „Streit.“ – Der Junge zieht sich in sich zurück.
Sie sagen, in der Schule würde mit zweierlei Maß gemessen
„Vor zwei Tagen haben sich zwei Deutsche in der Schule gestritten“, sagt ein Jugendlicher aus deutsch-nordafrikanischer Familie, er besucht eine Hauptschule. „Die Lehrer haben es ignoriert. Wenn sich zwei Libanesen prügeln, kommt sofort die Polizei oder es setzt Verweise. Das habe ich bei einer deutschen Schlägerei noch nie erlebt.“ Ein Streetworker auf dem Rattenparkplatz teilt die Einschätzung, dass oft mit zweierlei Maß gemessen werde; nachzuprüfen ist dies freilich nicht.
„Bei vielen Eltern besteht die Vorstellung: Die Schule wird es richten“, sagt Paul Hendricksen, der für das Uni-Institut ISSAB im Quartier moderiert. Einigen ist das System immer fremd geblieben, denn für die Generation der Väter und Mütter in Duldung bestand noch keine Schulpflicht. „Viele libanesische Jungs landen leider auf der Förderschule“, sagt er. „Die Mädchen sind im Schnitt deutlich fleißiger als die Jungs. Viele haben gute Schulabschlüsse gemacht und studieren.“
Aber sie haben andere Probleme, zum Beispiel ihren Nachnamen. Eine Jugendliche aus einer bekannten Großfamilie wollte Medizinische Fachangestellte werden, berichtet eine Sozialarbeiterin. Sie hatte ein gutes Abitur und trug kein Kopftuch, dennoch bekam sie viele Absagen. „Sie hat schließlich etwas bekommen in einer anderen Stadt, mit langer Fahrtzeit.“
Duldung wird vererbt – über Generationen
Der Junge, der Feuerwehrmann werden will, hat ein noch größeres Problem. Er stammt aus einer Familie, die aus der Region Mardin in der Türkei stammt. In der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts wanderte sie in den Libanon aus. Dort wurden den „Mardelli“ (oder „Mhallami“) oft die Papiere verwehrt, sie schlugen sich durch – bis 1975 der Bürgerkrieg ausbrach. In der Folge floh auch die Familie des Jungen nach Deutschland, Pässe konnte oder wollte die erste Generation nicht vorweisen. Darum lebt sein Großvater in Duldung, sein Vater lebt in Duldung und auch der Junge wurde in Duldung geboren.
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„Duldung heißt: Eigentlich sollst du hier weg“, sagt Paul Hendricksen. „Wir setzen die Abschiebung nur aus, aber sie schwebt jederzeit über dir.“ Viele Jugendliche beschreiben den Sozialarbeitern, dass sie von dieser Situation gestresst sind. Wie ihre Mütter und Väter werden sie sich jede Arbeit oder Ausbildungsstelle genehmigen lassen müssen. Und – sofern sie ihren Lebensunterhalt nicht selbst verdienen – auch den Umzug in eine andere Stadt. Auch wenn für die Dauer einer Ausbildung die Drohung der Abschiebung aufgehoben werden kann, ist der Status für viele Arbeitgeber ein Hemmnis.
Einige wollen nicht, andere können nicht
Aus der Duldung herauszukommen, sei nicht einfach, erklärt Birgit Naujoks, Geschäftsführerin des Flüchtlingsrats NRW. „Es klappt immer wieder mal mit der Passbeschaffung. Darum sagen Ausländerbehörden: Die anderen haben sich nicht ausreichend bemüht.“ Tatsächlich hätten einige Menschen Angst, einen türkischen Pass zu beantragen, denn sobald dieser vorliegt, könnten sie abgeschoben werden. „In vielen Fällen ist es aber in tatsächlich äußerst schwierig. Auch weil manche Länder ihre Angehörigen gar nicht zurückwollen.“ Die deutschen Ämter gingen sehr unterschiedlich vor. In einigen Städten genüge es, einen ablehnenden Bescheid des türkischen Konsulats vorzulegen, andere beständen auf einem türkischen Pass.
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Auch bei der Frage des Umzugs oder der Arbeitserlaubnis werde manchmal ein Zirkelschluss angewendet, sagt Naujoks: „Wenn einem Geduldeten vorgeworfen wird, sich nicht ausreichend um einen Pass zu bemühen, ist das für manche ein Grund, Anträge abzulehnen.“
Wie viele Mardelli in Duldung leben, kann die Stadt Essen auf Anfrage nicht sagen. 1.827 Bürger haben die libanesische Staatsangehörigkeit, davon sind 267 geduldet. Betroffen sind jedoch vor allem Mardelli ohne Pass, in der Statistik mischen sie sich mit Asylsuchenden anderer Herkunft. Die Gesamtzahl der Geduldeten in Essen beträgt 2.450 Personen. An diesem Nachmittag auf dem Rattenparkplatz sind zwei Jugendliche betroffen.
Vererbte Perspektivlosigkeit und schlechte Vorbilder
Wie aber sieht es mit den Zwängen in den Großfamilien aus und mit der organisierten Kriminalität?
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„Es ist nicht das Problem, dass man unter Druck gesetzt wird, kriminell zu werden“, sagt Thomas Rüth, Chef der ambulanten Jugendhilfe und der Kriminalprävention des CSE (Caritas und SkF Essen). Er glaubt, eine Mischung aus vererbter Perspektivlosigkeit, schlechten Vorbildern und fehlender Identität führe dazu, „dass der Schritt in die organisierte Kriminalität in dieser Kultur ein gefährlich kurzer ist“.
Die Initiative „Kurve kriegen“ arbeitete laut Lagebild Clankriminalität 2022 des Landeskriminalamtes im Ruhrgebiet mit 39 Kindern und Jugendlichen aus dem Umfeld bekannter Clanfamilien.
„Die Jugendlichen haben ihre erste unglückliche Liebe, haben Schulprobleme, es geht ihnen auf den Senkel, als Libanese angefeindet zu werden. Oder sie finden es toll“, sagt Rüth. „Wir haben diese Tendenzen von Selbstethnisierung, wo einer in der Grundschule sagt: Gib mal dein Federmäppchen oder Handy. Sonst hol ich meine Brüder. Diese Zuschreibung wird forciert durch Serien wie „4 Blocks“ oder die TikTok-Videos von Rappern.“
Ein Teil der Jugendlichen identifiziere sich nun mit dem Etikett „Mardin 47“, das auf den Herkunftsort der Urgroßeltern verweist. Dieses Narrativ werde forciert von Clan-Größen, sagt Rüth. „Dass es funktioniert, ist eine fatale Botschaft. Es bedeutet: Eine Identität in diesem Land hat man selbst in vierter Generation nicht gefunden.“ Er sagt aber auch: „Natürlich ist eine Duldung eine schlechte Startchance, aber sie ist kein Persilschein für kriminelles Verhalten.“
Die große Sorge der libanesischen Väter
„Von vielen vernünftigen libanesischen Vätern“ hört Rüth: „Wir haben Angst um die Position unserer Kinder in dieser Gesellschaft. Wir haben eh alles verloren, aber sie sollen es mal anders haben. Diese große Sorge der Menschen, die hört keiner. Ein Libanese kommt zur Arbeit und der erste Spruch seiner Kollegen ist: Was habt ihr da wieder auf dem Salzmarkt gemacht?“
Wir sprechen auf dem Rattenparkplatz auch mit einem Libanesen, der als Kleinkind nach Deutschland kam. Er berichtet, wie er in den 90ern geschummelt habe, um einen Führerschein zu bekommen. „Das Straßenverkehrsamt bestand auf einem Ausweis, den ich wegen meiner Duldung nicht hatte. Mein Fahrlehrer fand das skandalös und hat einfach behauptet, er hätte meinen Ausweis gesehen.“ Mit deutschen Nachbarn aufgewachsen habe er sich privat selten, vom Staat sehr oft ausgegrenzt gefühlt, sagt der Mann – da taucht ein Bekannter auf, blaue Sonnenbrille, Muskelshirt mit passendem Unterbau. „Ist doch so?“ – „In der fünften Klasse durfte ich nicht mit auf Klassenfahrt“, sagt der kantige Typ ganz ernst. „Weißt du, wie hart das war?“