Ruhrgebiet. Die Lieferengpässe werden immer schlimmer: 500 Medikamente sind derzeit aus. Darunter alle Fiebersäfte für Kinder, aber auch Mittel gegen Krebs.

Fiebersaft und Thrombosespritze, Betablocker und Rheumamittel – es gibt viel, was es derzeit nicht gibt in den Apotheken. Mehr als 500 verschiedene Arzneimittel haben nur eines gemein: Auf den Bestelllisten leuchtet der Warenkorb rot, „nicht verfügbar“. Die Liste der Lieferengpässe wird immer länger. Das verunsichert die Patienten und nervt die Pharmazeuten. Gute Besserung? Ist nicht in Sicht.

Diese Woche stand wieder ein Kleinkind in der Patroklus-Apotheke in Dortmund: „Verrotzt, verheult, fiebrig“, sah Inhaber Felix Tenbieg. Das verschriebene Antibiotikum aber war nicht zu bekommen, der Kinderarzt nicht erreichbar; der Apotheker schickte Mutter und Kind zurück in die Praxis. Sie kehrten wieder mit zwei neuen Rezepten. Die erste Alternative war ebenfalls nicht lieferbar, von Medizinvorschlag Nr. 3 fand sich noch ein Restbestand. Ein Glück: Ein Kollege im Rheinland versprach einem Kleinkind kürzlich Gummibärchen, damit es eine halbe Tablette schluckte, der Fiebersaft war aus. „Bei Kinderarzneimitteln“, sagt Tenbieg, „tut’s am meisten weh.“

Lücken im System: Die Kommissioniermaschine weiß alles, aber sie weiß die leeren Fächer zu verbergen.
Lücken im System: Die Kommissioniermaschine weiß alles, aber sie weiß die leeren Fächer zu verbergen. © FUNKE Foto Services | Fabian Strauch

Von 7000 Arzneien sind mehr als 500 nicht mehr zu bestellen

Weshalb seine Mitarbeiterinnen inzwischen Hurra schreien, wenn sie mal ein Medikament „geschnappt“ haben. Gerade hat der Chef wieder selbst geguckt, ein Cholesterinsenker stand auf Grün! Zehn Packungen lieferbar, zwei Klicks – und weg. Ein einziges wird der Großhandel an diesem Nachmittag nach Dortmund liefern. Während Felix Tenbieg noch sucht unter A wie Amoxi – fast 50 solcher Penicillin-Präparate stehen auf Rot –, springt die Zahl der Arzneien, die es nicht gibt, von 505 auf 506. Von 7000, die die Patroklus-Apotheke sonst auf Lager hat. Das sind 506 virtuelle, violette Ns: „Nicht lieferbar“.

Und schon wieder rund 150 Medikamente mehr als noch im vergangenen Jahr. Medizin von A wie dem Hustenlöser Ambroxol bis Z wie der Schlaftablette Zopliclon sind inzwischen betroffen, keine besonderen Arzneien, sondern bald 80 Prozent aller gängigen, sagt der Vorsitzende des Apothekerverbands Nordrhein, Thomas Preis: Antibiotika aller Art, Herzmedikamente, Augentropfen, Krebs- und Rheuma-Mittel, neuerdings Thrombosespritzen. Psychopharmaka, Insulin, antivirale Arzneien… „Gruselig“, sagt Felix Tenbieg.

Apotheker verbringen Stunden mit der Suche nach lebenswichtiger Medizin

Nun sagen Apotheker selbst von sich, dass sie findig seien: Tüfteln, welche anderen Stärken, andere Größen vergleichbar sind, fragen nach ähnlichen Wirkstoffen, verteilen Bestände unter Kollegen. „Wir finden immer eine Lösung“, sagt Tenbieg. In der Not rührten seine Mitarbeiterinnen Fiebersäfte selbst an, was sich natürlich herumspricht in der Stadt – und die Nachfrage weiter erhöht. Und all das kostet Zeit. Mittlerweile wissen Pharmazeutisch-Technische Assistentinnen (PTA) im Detail, welche Tabletten wie teilbar sind, Kaufmännische Angestellte verbringen Stunden mit der Jagd auf Medikamente. In der Krankenhaus-Apotheke der Kliniken Essen-Mitte überschlägt Direktor Lars Gubelt, dass sie wohl 90 Minuten am Tag das Netz durchforsten, mailen, telefonieren auf der Suche nach nötigen Präparaten.

Nachschub gibt es nicht: die Blister sind leer.
Nachschub gibt es nicht: die Blister sind leer. © Adobestock | Robert Poorten

Manchmal findet sie Gubelt, der im Einkaufsverbund mit 26 Krankenhäusern vor allem Krebsmittel beschafft, im Ausland, oft zum vielfachen Preis, der häufig nicht erstattet werde. Nur kommen in solchen Fällen, außerhalb verhandelter Budgets, Rückfragen aus dem Controlling – und beim niedergelassenen Pharmazeuten von den Krankenkassen. Wenn nicht auf jedem Rezept sauber dokumentiert ist, was warum teurer beschafft werden musste, als Rabattverträge vorsehen, zahlt die Versicherung unter Umständen nicht. Eine Apothekerin in NRW bastelte sich bereits vorsorglich einen Stempel: „Nicht lieferbar.“ Dabei, sagt Verbandschef Preis, gehe es hier um „Daseins-Vorsorge, das ist kein Luxus“!


Patienten verunsichert, Medizin zwölfmal teurer

Und die Kunden stehen vor dem leeren Verkaufstresen mit einem „unguten Gefühl“, das erlebt Felix Tenbieg täglich. Die Menschen sorgten sich um ihre Gesundheit, was sie alternativ bekommen, könnte ja nicht genau das sein, was der Doktor verschrieben hat. Ist es dann zweite, gar dritte Wahl? Hilft es überhaupt? In der Regel ja, sagen die Apotheker, die sich mit den Wirkstoffen auskennen. Ein „Vertrauensthema“, sagt in Essen Lars Gubelt. Er berichtet von einer Zusatztherapie bei Krebs, die schon seit einem Jahr nicht mehr verfügbar ist. Mediziner entwickelten eine Alternative, zum zwölffachen Preis, auch die war schnell vergriffen. Eine medizinische Fachgesellschaft empfahl, von Infusionen auf Tabletten umzustellen, nur müssen Ärzte ausführlich informiert werden und auch die Kranken, die oft zweifeln: „Ein Riesenaufwand.“

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Wut und Ärger indes erlebt sein Kollege Tenbieg eher selten: „Die Kunden haben verstanden, dass wir nichts dafür können.“ Wer aber kann es? Der Mangel, das ist lange klar, liegt unter anderem an nicht erst seit Corona fragilen Lieferketten aus dem Ausland. „Die Nachfrage nach Medikamenten steigt weltweit“, sagt Apothekerverbands-Chef Preis. In den so genannten Schwellenländern würden die dort produzierten Präparate inzwischen selbst gebraucht, Deutschland und Europa seien im Vergleich eher kleine Märkte. Zudem seien Kapazitäten noch nicht überall ausgebaut worden – häufig gebe es weltweit nur einen Standort, oft in Asien, der eine Arznei herstelle, weiß Apotheker Gubelt von den Kliniken Essen-Mitte. „Wenn der wegfällt“, etwa durch die Pandemie, einen Brand…

Leer: Mehr als 500 Medikamente sind derzeit nur mit viel Glück zu bekommen. Auch lebenswichtige Präparate sind dabei.
Leer: Mehr als 500 Medikamente sind derzeit nur mit viel Glück zu bekommen. Auch lebenswichtige Präparate sind dabei. © FUNKE Foto Services | Fabian Strauch

Nicht nur Wirkstoffe aus Asien fehlen, auch Verpackungen aus Europa

Zudem gebe es in den Firmen kaum Vorräte mehr, was produziert wird, werde gleich abverkauft. Ein Problem nicht nur für Krankenhaus-Apotheker, die schon ein Jahr zuvor ihre Kontingente verhandeln müssen. Und bei allen Bestrebungen der Politik, die Produktion nach Europa zurückzuholen: Das Problem liegt laut Preis auch hier: Wenn nicht Wirkstoffe fehlten, mangele es vielleicht an Kartonagen, an Beipackzetteln, an Arzneiflaschen. Vergangenes Jahr habe es plötzlich keine Sprühvorrichtungen für Nasensprays gegeben. Schon jetzt hätten viele Lieferanten die früher übliche „Winterbevorratung“ abgesagt, um kontinuierlicher liefern zu können.

Bei den Antibiotika für Kinder hat der Bundesgesundheitsminister zwar im April offiziell den „Versorgungsmangel“ festgestellt, was die Einfuhr von Wirkstoffen erleichtern soll. Hoffnung auf Besserung hat das in den Apotheken nicht geweckt. Fiebersäfte und -zäpfchen sind nach wie vor nicht da, insgesamt wird der Bestand immer dünner. „Wir sind jetzt im Sommer“, sagt Thomas Preis, „und haben nicht einmal eine große Infektionswelle.“ Die aber wird im Herbst wohl kommen. Und dann, Herr Preis? „Dann gibt es immer noch nichts, und es könnte schlimm werden.“

>>INFO: APOTHEKER FORDERT EINGREIFEN DES STAATES

Erst in der vergangenen Woche haben Apothekerinnen und Apotheker demonstriert. 85 Prozent der Apotheken blieben geschlossen. Unter anderem gingen die Pharmazeuten gegen die Liefer-Engpässe bei Medikamenten auf die Straße.

Thomas Preis, Vorsitzender des Apothekerverbands Nordrhein, fordert ein Eingreifen des Staates: Er müsse den Bedarf ermitteln, öffentlich machen und bei Mangel selbst einkaufen. Etwa bei den Fiebersäften für Kinder ermittelt Preis mit Blick auf die vergangene Erkältungssaison einen Bedarf von 300.000 Flaschen Fiebersaft mit Paracetamol und 400.000 Flaschen Penicillin V, das etwa bei Scharlach gegeben wird. Das ergebe bei gut verhandelten Einkaufspreisen einen Gesamtbetrag von rund zwei Millionen aus der Staatskasse, die aber auch „garantiert abgerufen“ würden. „Anders wird es nicht gehen.“