Ruhrgebiet. In NRW war die Zahl der Drogentoten nie so hoch. Woran liegt das? Eine Spurensuche in der Szene und an einem Ort, der Heroin und Kokain erlaubt.
693. So viele Menschen sind allein im Jahr 2021 und nur in Nordrhein-Westfalen durch Drogen gestorben, fast 300 mehr als im Jahr davor. Im Vergleich zu 2018 hat sich ihre Zahl damit mehr als verdreifacht, einen absoluten Höchststand meldet das Landeskriminalamt. Wie kommt das, wer sind diese „Drogentoten“, woran sterben sie – und warum? Eine Spurensuche.
Die Toten
Sie heißen Markus, Julia, Christian... Jan Sosna schaut auf seine Liste, die er führt mit „denen, die von uns gegangen sind“, er hat die meisten von ihnen gekannt. Auch jene beiden, 41 und 49 Jahre alt, die „auf einem guten Weg“ waren, Entzug, Arbeit, Wohnung… Und die dann plötzlich doch tot gefunden wurden: Überdosis. Weil ihre gerade cleanen Körper dem Stoff nicht mehr standhielten, sowas geht dem Sozialpädagogen besonders nah.
Sosna leitet in Dortmund das „Café Kick“, eine Einrichtung der Drogenhilfe. Sie haben hier ein Kontaktcafé, Kaffee und Kuchen zu kleinen Preisen und einen Ort zum Reden. Aber auch einen „Konsumraum“ im hinteren Bereich, das heißt, eigentlich sind es zwei: Rechts wird geraucht, Blech, Folie oder ein Pfeifchen. Links wird gespritzt, die Besucher bekommen sauberes Besteck. Es gibt hier 23 Plätze, gerade sind Marek da und Martin, vorn warten ungeduldig weitere Männer, mit Schweißperlen auf der Stirn. Sozialarbeiter achten darauf, dass es allen „gut“ geht.
„Hier ist noch keiner gestorben“, sagt Roberto Montuori. Auch die Notfälle, für die die Mitarbeiter geschult sind, seien weniger geworden, seit man im „Kick“ Drogen nehmen kann unter Aufsicht. Laut Jan Sosna gibt es seither sogar weniger Tote in der ganzen Stadt. Sie setzen hier auf „Safer Use“, Strategien, um den Konsum wenigstens weniger gefährlich zu machen: Wenn der Stoff schon in die Vene soll, dann wenigstens über eine sterile Spritze. Es geht darum, das „Überleben zu sichern“ – aber eigentlich ist es ein bisschen absurd: Die Menschen nehmen hier legal illegale Betäubungsmittel. An der Tür klebt eine Postkarte, die witzig gemeint ist: „Ihr nehmt doch alle Drogen!“
Sosna liest die Polizeistatistik, er vergleicht sie mit der vom Gesundheitsamt, und immer kennt er noch mehr als die, die da gemeldet werden: So viele hat das Team „bis zum Tod begleitet“, bei denen kein Arzt die Drogen als Todesursache notierte. Menschen, die litten unter ihrer „Lebenstristesse“, der Ziel- und Hoffnungslosigkeit, den Langzeitfolgen. Manchen, sagt Sosna, sei darüber „das Herz stehengeblieben“. Würde man sie mitzählen, glaubt der Sozialpädagoge, „wären die Zahlen doppelt bis dreifach so hoch“.
Wie wird gezählt?
Die Polizei unterscheidet vier Todesursachen. Sie zählt nicht nur diejenigen, die an einer Überdosis sterben, die sie manchmal findet mit der Spritze noch im Arm. Um ein Vielfaches höher ist die Zahl derer, die den Folgen ihres langjährigen Drogengebrauchs erliegen, Krankheiten wie Hepatitis, Lungenkrebs, Leberzirrhose, Immun- und Herzschwäche: 489 Menschen betrifft das laut Statistik in NRW, gut 70 Prozent der Drogentoten insgesamt. Das erklärt, warum auch das Alter der Toten kontinuierlich ansteigt, auf zuletzt 44 Jahre. Drogenabhängige leben länger, auch weil die Hilfsangebote besser geworden sind. „Es geht“, sagt Prof. Norbert Scherbaum, Klinikdirektor für Psychiatrie an der LVR-Uniklinik Essen, „nicht mehr um den 19-Jährigen auf dem Bahnhofsklo.“
„Die Leute“, sagt in Dortmund auch Jan Sosna, „werden immer älter, aber ihre Probleme sind natürlich nicht weg. Es gibt so viele ohne Perspektive.“ Wer 20, 30 Jahre Drogen genommen hat, steckt oft tief in den Schulden, hat eine Strafakte, wenig soziale Kontakte. „Da ist es schwer, in die normale Welt zurückzukehren.“ Gestiegen ist deshalb auch die Zahl derer, die ihr Leben nicht mehr aushalten und Suizid begehen: 42 Menschen taten das im Jahr 2021 in NRW, weit mehr als doppelt so viele wie im Jahr davor. Auch tödliche Unfälle unter Drogeneinfluss sind mehr geworden.
Welche Rolle spielt Corona?
In den Lockdown-Monaten haben die Drogenhilfe-Einrichtungen, Anlauf- und Beratungsstellen zu manchem Betroffenen den Kontakt verloren. Dass das für die Süchtigen ein großes Problem war, bestätigen alle Experten. Man habe sie buchstäblich auf der Straße stehen lassen. Die Verträge, die das Café Kick mit den Besuchern seiner Konsumräume schließt, gingen von 737 im Jahr 2019 binnen zwei Corona-Jahren auf 535 zurück. Aus 23 Plätzen wurden wegen des Mindestabstands zeitweise acht, und wie soll man dort rauchen, wenn man eine Maske tragen muss?
Hinzu kam das Virus selbst: eine Gefahr für alle, die gesundheitlich geschwächt sind. Und eine gewisse Einsamkeit. Auch die Szene, sagt Jan Sosna, habe „sich verloren“. Man achtet aufeinander auf der Straße, man bleibt gern beieinander, aber das war in der Pandemie zeitweise verboten. Ein Mann aus dem Café Kick sei auf 7000 Euro Bußgeld gekommen weil er mit seinem Rollstuhl im Stadtgarten stand, zuweilen mit zwei anderen. Dabei rät Roberto Montuori seinen Schützlingen genau das: „Bleibt zusammen. Hau nicht ab, wenn es deinem Kumpel schlecht geht.“ Wenn einer zu jung ist oder in Substitution: Dann darf er nicht hinein in die Kontaktstelle, und das Einzige, was sie für ihn tun können, ist, andere zu bitten, ihn nicht allein zu lassen.
Gefährliche Mischung
Woran genau die „Drogentoten“ gestorben sind, wird selten obduziert und analysiert. Dann steht „unbekannte Vergiftung“ im Bericht. Was Experten umtreibt, ist der „Mischkonsum“: Bei Entzug greifen Betroffene zu anderen Drogen; welche die tödliche war, bleibt ungeklärt. Viele mischen mit Schmerzmitteln oder synthetischen Opiaten. In Mülheim starben 2022 drei Jugendliche nach einer Vergiftung nach der Einnahme unbekannter Substanzen.
In Dortmund, das ist bekannt in der Szene, ist die Qualität gerade bei den Opiaten nicht die beste. Vor Jahren, erinnert sich Roberto Montuori, habe man beim Heroin einen Reinheitsgehalt von acht Prozent gemessen. Der Rest: allerlei streckende Inhaltsstoff, darunter Haushaltsreiniger, Rattengift, Schafentwurmungsmittel… Nicht nur die örtliche Aidshilfe als Träger des Café Kick fordert schon lange ein sogenanntes „Drug-Checking“: Die qualifizierte Analyse illegaler Drogen etwa in Konsumräumen könne Todesfälle vermeiden, für Drogenkonsumierende sei das Unwissen über Beimengungen „ein tägliches Russisches Roulette“.
Gute Erfahrungen in Notfällen machen Retter mit einem Nasenspray, das Naloxan enthält: Das löst die Atemlähmung nach einer Überdosis schnell auf. In Dortmund wurden Kick-Mitarbeiter, aber auch Süchtige selbst damit geschult. Allerdings, sagt Pädagoge Montuori, sei der Versuch aus finanziellen Gründen wieder eingestellt worden. Und mit Dankbarkeit dürfe nach der Gabe des Mittels niemand rechnen: Es stoppt ja einen teuren Trip. Dank aber erwarten sie im „Kick“ ohnehin nicht. Natürlich wäre dort allen lieber, wenn die Menschen keine Drogen nähmen. Man rede ihnen auch häufig zu, sagt Jan Sosna. „Aber wir sind nicht die Oberlehrer. Wir akzeptieren ihre Lebensweise.“
Das Crack-Problem
Crack ist auf dem Vormarsch, allein im „Kick“ wurden binnen sieben Jahren aus 61 „Konsumvorgängen“ 16.303. Weil es leichter zu bekommen ist und deshalb billiger wird, rauchen immer mehr Süchtige das Kokainprodukt. Sie sterben daran eher selten und nicht direkt, aber es macht andere Sorgen: Crack wirkt schnell, aber nicht lang, der nächste „Turn“ muss rasch her. Ohnehin haben Drogenabhängige, weiß Jan Sosna, „vieles gelernt, aber nicht Geduld“. In jüngster Zeit habe der Crack-Konsum die Menschen verändert und mit ihnen die Stimmung im Café: Alles sei hektischer geworden, gehetzter, „Höflichkeitsfloskeln sind schon zu viel“. Wer nur noch nach Geld sucht für neuen Stoff, keinen Kopf hat für Essen, Trinken, Körperpflege… Sosna beobachtet „rapiden Verfall und starken Gewichtsverlust“. Die Abhängigkeit sei „exorbitant“.
Das macht auch etwas mit der Stadt. Die Toten sieht man nicht, aber die mit Drogen leben schon. „Alles ist schlimmer geworden“, das hört Jan Sosna oft: von Bürgern, Politikern, Händlern. Schlimmer nicht, aber sichtbarer, sagt er dann. Es seien ja auch die Bettler und Obdachlosen mehr geworden, auch die obdachlosen Drogenabhängigen, wer wolle da unterscheiden? Eines aber stimmt: „Die Verelendung und Verwahrlosung infolge von Crack lässt sich nicht übersehen.“
Und Sozialarbeiter wie Streetworker sind nicht immer da. Das Café Kick hat zwischen vier und sechs Stunden am Tag offen, was aber sollen die Leute machen nach 16 Uhr? An einem Wochentag im Februar zählt Sosna 240 Drogen-Einnahmen von 123 Personen. Sie haben „Stammgäste“ hier, die kommen bis zu fünfmal täglich. In einem Modellversuch darf das Café Kick derzeit auch Auswärtige „aufnehmen“. Die Stadt hatte das verboten, fürchtete die Sogwirkung. Aber Sosna weiß: Menschen aus den umliegenden Orten kaufen ihren Stoff in Dortmund, dann konsumieren sie ihn auch dort. Und wenn sie das bei Kick nicht dürfen, „gehen sie auf die Rathaustoilette oder ins Gebüsch“, sagt Sosna. „Und die Spritzen liegen herum.“
Wenn es aber irgendetwas Gutes gäbe an den steigenden Zahlen, sinniert Jan Sosna im Dortmunder Drogen-Café, dann dass das Thema ins Blickfeld rücke. Vielleicht sagt er, werde nun mehr Geld für Hilfe in die Hand genommen: „Damit sich etwas ändert.“