Ruhrgebiet/Herne. Kinder begehen deutlich häufiger Gewaltdelikte als vor der Pandemie. Ist das die Rechnung für die Lockdowns? Sind Jugendbanden am Werk?

Gelsenkirchen: Mutmaßlicher Dieb (15) schlägt Angestellten. – Polizeieinsatz in Bochum: Schülerin durch Messer verletzt. – Nach Vandalismus-Serie (in Oberhausen): Was passiert jetzt mit den Kindern?

Dies sind nur drei Schlagzeilen aus einer Woche. Besonders in Gelsenkirchen beschäftigen „Raubzüge von Jugendlichen auf Jugendliche“ die Polizei derzeit massiv. Überfälle auf dem Schulweg, Abzocke auf dem Schulhof, Schläge und Drohungen, manchmal mit Messer. Gegen rund 50 Tatverdächtige ermittelt sie, die jüngsten sind erst 12 Jahre alt, also noch Kinder. Aber auch in Duisburg und Bottrop gab es im vergangenen Jahr vermehrt Raubüberfälle durch Gruppen von Jugendlichen (hier mehr). Und dann die Silvesterkrawalle. Die neuesten Zahlen aus dem Landeskriminalamt untermauern diese Schlaglichter: Minderjährige haben zuletzt wieder mehr Gewalttaten begangen. Sorgen bereitet vor allem der Anstieg bei den Jüngsten, den Kindern.

Fast ein Viertel mehr Gewalttaten durch Kinder

Im Vergleich mit dem Vorjahr wirken die Steigerungen von 30 Prozent bei Jugendlichen und 60 Prozent bei Kindern gewaltig, doch in den Lockdowns gab es viel seltener Gelegenheit für viele Delikte. Wenn man mit dem Jahr 2019 vergleicht, liegen die Gewaltdelikte bei Jugendlichen etwa auf dem Niveau vor der Pandemie (plus vier Prozent), bei den Unter-14-Jährigen ist die Gewalt allerdings um fast ein Viertel gewachsen (plus 23 Prozent).

Auch interessant

Immer wieder dringen die jungen Täter in Schulen ein und überfallen oder drangsalieren Schwächere (Symbolbild).
Von Sibylle Raudies, Sinan Sat und Gordon Wüllner-Adomako

Ausgewertet wurden jeweils die ersten drei Quartale (weil die Zahlen für 2022 noch nicht vorliegen), gezählt wurden nur Gewaltdelikte von der Bedrohung über Körperverletzung bis hin zu Raub, an denen ausschließlich Kinder (13.191 Taten) oder aber Jugendliche (41.027 Taten) beteiligt waren. Die Zahl der Fälle, in denen ein Messer gebraucht wurde, blieb bei den Kindern im Vergleich zu 2019 dennoch gleich, bei den Jugendlichen ging sie sogar zurück.

Was also ist passiert mit den Kindern? Sind die Pandemie und „kriminelle Jugendbanden“ wirklich die Erklärung, wie NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) kommentierte? Clemens Kroneberg lehrt Soziologie an der Uni Köln und untersucht für das Landeskriminalamt „Gewalt an Schulen“: „Ein Großteil der Gewalttaten wird von wenigen Mehrfachtätern begangen. Diese werden normalerweise zuerst in der Schule auffällig. Wenn das aber in den Lockdowns nicht mehr der Fall ist, kann man erst relativ spät reagieren.“ Für diese These spreche auch, sagt Kroneberg, dass „teilweise weniger Kinder an Kliniken vorstellig wurden“ – weil offenbar Probleme im Sozialverhalten während der Pandemie unentdeckt blieben.

Ein vorübergehender Anstieg?

Kroneberg geht jedoch davon aus, dass der Anstieg vorübergehend ist – es kommen nun mehrere Jahrgänge aus einer Phase, in der es weniger Gelegenheiten gab, entsprechende Erfahrungen zu machen. Und es gibt seit mindestens einem Jahrzehnt den Megatrend zu weniger Jugenddelinquenz – in den meisten westlichen Industriegesellschaften. Er korrespondiert nicht immer mit mehr Sozialarbeit, erklärt Kroneberg. Eher schon mit besserer Ernährung und einer Verringerung von Umweltgiften in der frühen Kindheit. „Aber Jugendliche verbringen auch noch mehr Zeit in Sozialen Medien – und somit weniger Zeit draußen.“

Auch interessant

In mehreren Projekten beschäftigt sich Kroneberg auch mit dem Zusammenhang zwischen Herkunft und Gewalt. Prügeleien in der Schule, hat er herausgefunden, finden meist innerhalb der ethnischen Gruppen statt. „Wenn sich Jugendliche unterschiedlicher Herkunft miteinander schlagen, ist das eher eine Seltenheit – und vielleicht sogar eher ein Zeichen gelingender Integration, weil man mehr miteinander zu tun hat.“ Auch spielt die Herkunft bei der „Gewaltrate“ keine statistisch relevante Rolle. „Sobald die Jugendlichen strukturierten Freizeitaktivitäten nachgehen, gibt es keine Unterschiede“, erklärt Kroneberg.

Er hat auch untersucht, ob es einen Unterschied macht, ob Jugendliche (oder deren Familien) aus Ländern stammen, in denen Bürgerkrieg herrscht, in denen die Zustimmung zu Gewalt hoch ist, auch unter Eltern und Lehrern – doch auch diese Jugendlichen sind im Schnitt nicht gewaltbereiter als zum Beispiel deutsche: aus dem Libanon stammende Jugendliche leicht häufiger, aus dem Irak stammende dafür leicht weniger. Ausreißer aus der Statistik seien manchmal Jugendliche, „die perspektivlos sind, weil sie abgeschoben werden könnten“. Aber alles hänge davon ab, „ob sie Gewalt im Elternhaus erleben und wie sie ihre Freizeit verbringen“.

Die Schule als Korrektiv fiel weg

„Der Punkt sind die sozialen Umstände“, bestätigt auch Lothar Heistermann, Rektor der Hans-Tilkowski-Hauptschule in Herne. „Der 13-Jährige von heute ist nicht der 13-Jährige von vor vier Jahren. Es fehlen ihm zwei bis drei Jahre Begleitung. Vieles, wo wir als Schule eingeschritten sind, hat sich nun in den eigenen vier Wänden abgespielt.“ Und manchmal eben ohne ausreichendes Korrektiv.

https://www.waz.de/region/rhein-und-ruhr/wenn-schule-zur-letzten-rettung-wird-fuer-missachtete-kinder-id214715527.htmlMobbing, Beleidigung, Hetze und Hassrede hätten sich noch stärker in die Sozialen Netze verlagert, erklärt Schulsozialarbeiterin Martina Bottenberg. „Was nun an Störungen in den Beziehungen der Schüler da ist, setzt sich in der Schule fort.“ Heißt: Im Netz geraten sie aneinander, und härter als es von Angesicht zu Angesicht geschehen wäre – und wenn man sich dann tatsächlich trifft auf dem Schulhof, knallt es öfter und heftiger. Hinzu kommt: „Es gibt Klassen, die zweieinhalb Jahre keinen Sportunterricht hatten. Dort lernt man auch, wenn man zum Beispiel beim Fußball gefoult wird, was man mit der eigenen Körperkraft anrichten kann.

Wie in Gelsenkirchen kam es auch an der Hans-Tilkowski-Schule mehrfach dazu, dass schulfremde Jugendliche eingedrungen sind – wenn ein Konflikt eskalierte, hatten Schüler ihre Kontakte aktiviert, die dann zur Unterstützung antraten. „Zum Glück haben wir noch genug Schüler, die uns vertrauen und Bescheid gesagt haben“, sagt Heistermann. „Das ganze Kollegium ist dann runter, handybewaffnet. Wir haben dann mit den Jugendlichen geredet und wenn das nichts half, haben wir die Polizei geholt. Zwei, drei mal war das der Fall.“

Helfen härtere Strafen?

Auch interessant

In diesem Zusammenhang wir oft nach härteren Strafen gerufen. Dies hält Prof. Clemens Kroneberg zumeist für Symbolpolitik. „Wir haben ausreichende rechtliche Mittel.“ Tatsächlich könnten längere Aufenthalte im Jugendarrest zum Beispiel eher kontraproduktiv wirken. Es gebe aber durchaus Gründe für schnellere Strafen, weil anderenfalls „der Eindruck eines schwachen Staates“ entstehe, gerade bei kurzfristig denkenden Personen. „Lieber etwas schwächere Strafen als lange Wartezeiten.“

Ganz ähnlich drückt es Kriminalhauptkommissarin Laura Gammon aus, Dozentin für Kriminologie an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung in Hagen: „Die Reaktion auf die Straftat erfolgt spät. Nach einem halben Jahr und mehr ist es für junge Menschen schon sehr schwierig noch einen Zusammenhang herzustellen.“ Das Jugendrecht ziele ohnehin nicht auf Strafen, sondern auf Erziehung. „Es gilt, die Problemlagen zu beseitigen: fehlende Strukturen im Alltag, kriminelle Peergroups, soziale Ausgrenzung. In ein paar Wochen Jugendarrest kann man vielleicht Dinge wie einen Drogenentzug anstoßen oder Arbeit besorgen. Aber es muss danach eine Übergangsmanagement geben.“

Auch interessant

Zumal Kinder ohnehin noch nicht strafmündig seien. Hier gelte es, eng mit dem Jugendamt zu kooperieren. Programme wie „Kurve kriegen“ widmen sich Intensivtätern, beruhen aber auf Freiwilligkeit. „Kinder entscheiden sich gegen eine Straftat, wenn etwas auf dem Spiel steht. und ich glaube, dass die Kinder in der Coronazeit keinen richtigen Bezug zur Schule hatten.“ Viele sozialen Bindungen seien weggefallen oder schwächer geworden. Hinzu kommt, dass die Schwierigkeiten in den Familien zugenommen haben. Mehr Kinder seien wahrscheinlich Opfer von häuslicher Gewalt geworden oder hätten „zuschauen müssen, wie in der Familien geschlagen wurde“.

Eher Clique als Bande

Von Jugendbanden hat Innenminister Reul gesprochen. Tatsächlich werde „der Großteil der Jugenddelikte in Gruppen begangen“, sagt Gammon. Allerdings zeichne eine Jugendbande sich durch Organisation und eine Zielsetzung aus. „Das Phänomen existiert, aber es ist eine Ausnahme“. Zumeist handelten die Jugendlichen in Cliquen „spontan und nach Gelegenheit“. Auch Gammon verweist auf „einen kleinen Anteil an Intensivtätern, der für einen Großteil der Straftaten verantwortlich ist.“ Auch sie sagt: „Der Migrationshintergrund ist nicht entscheidend. Sondern: In welchen Problemlagen stehen die jungen Menschen?“

Auch interessant

Und wie kommt eine Schule heraus aus einer solchen Lage? Lothar Heistermann hat eine bemerkenswerte Rede gehalten vor dem Kollegium. „Es ging nicht mehr darum, dass wir Deutsch, Mathe oder Englisch vermitteln. Die Unterrichtsinhalte waren sekundär“, erinnert er sich. Ja, er hat ein Halbjahr inhaltlich verloren gegeben – „es ging um die sozialen Kompetenzen.“ Von der Pünktlichkeit bis zur Konfliktbewältigung. „Wir können nur in der Schule arbeiten, wenn wir in Beziehung sind“, sagt Martina Bottenberg. „Sonst lernen die Schülern nichts, sonst laufen sie nur durch. Nur so konnten wir wieder andocken. Wir hatten uns ja verloren.“