Duisburg/Essen. Mit welchen Jugendlichen haben wir es zu tun? Wie ticken sie? Und wie kann man sie erreichen? Drei Experten berichten aus der Sozialarbeit.
Die Silvesterkrawalle waren nicht die ersten ihrer Art – will man darauf hinarbeiten, dass Helfer nicht mehr angegriffen werden, stellen sich drei Fragen: Mit welchen Jugendlichen haben wir es zu tun? Warum verhalten sie sich so? Wie kann man sie erreichen? Wir haben mit drei Menschen gesprochen, die Sozialarbeit vor Ort leisten und die Klientel gut kennen.
Als Pater Oliver Potschien die Paletten und Mülltonnen brennen sah auf der Weseler Straße in Duisburg-Marxloh, stellte er auch die Frage: Wer war das? Er kennt ja viele Jugendliche – „und unisono antworteten die mir: Das waren die Bekloppten.“ Das klingt erst mal unspezifisch. „Aber das ist der Punkt“, sagt Pater Oliver: „Die Bekloppten haben eine Schraube locker, unabhängig von der Nationalität. Es gibt ein paar, die psychisch auffällig sind, aber ich habe noch keine Jugendlichen erlebt, die nicht interessiert daran wären, friedlich zu leben.“
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Das Feuer beschädigte zwar die Straßenbahnschienen, aber Angriffe auf Helfer verzeichnete die Polizei in Marxloh nicht. (Schwerpunkte waren die Stadtteile Hochfeld und Hochheide.) Der Pater glaubt: „Die wesentlichen Aspekte sind Langeweile und der Mangel an Vorbildern. Ein Teil der Kinder wird nicht beschult. Und das Nachmittagsprogramm ist: Wir ziehen in Gruppen durch die Straßen.“
Ist das Imponiergehabe der Silvesternacht, sind die geleasten dicken Autos, mit denen rennen gefahren werden, nicht auch Ausdruck eines Minderwertigkeitskomplexes? „Gerade bei den Älteren erlebe ich oft ein Gefühl des Nichtangekommenseins“, sagt Pater Oliver. Er hat mal vier, die noch nie am Meer waren mit nach Travemünde genommen. „Aber auf der Promenade sagten sie dann: Nee, hier gehören wir nicht hin.“
Kein Kontakt zur Feuerwehr
„Die Kinder, die ich in Marxloh kennenlerne, wollen genauso häufig Polizist oder Feuerwehrmann werden wie anderswo.“ Aber einige bekommen dann das Gefühl, „diese Chance werde ich mein Leben nicht kriegen“ – und sei es weil sie selbst straffällig geworden sind. Andere hätten schlicht keinen Kontakt zur Freiwilligen Feuerwehr oder anderen positiven Vorbildern. Also bildet der Pater, Leiter des Georgswerks und gelernter Rettungsassistent, nun selbst junge Libanesen zu Rettungshelfern aus.
Wie man in Kontakt kommt? „Ich habe mich auf den Platz gestellt und sie angesprochen.“ Die neu Hinzugezogenen sprächen schlechter deutsch, da brauche man einen anderen Ansatz. Pater Oliver will sie nun mit einem Straßenmusiker herantrommeln. Wortwörtlich.
Einen Boxclub hat er auch gegründet. Aber „die Bekloppten“, glaubt er, kann er mit beiden Inititaiven auch nicht erreichen: Die Jugendlichen sollen zwar lernen, wie man pünktlich ist, seine Aggression im Griff hat und in der Gruppe klarkommt – aber ein bisschen davon müssen sie schon mitbringen.
Hier kommt das Landesprogramm „Kurve kriegen“ ins Spiel. Stefan Hoeps arbeitet sehr intensiv mit Straftätern zwischen acht und 18 Jahren. Die Teilnahme ist freiwillig und wird durch die Polizei organisiert. Es ist nicht selten, dass die Beamten auf Väter oder Brüder treffen, die schon Gefängnisse von innen gesehen haben und sagen: „Das soll dir erspart bleiben.“ Manchmal melden sich die Eltern, weil sie Hilfe suchen, manchmal stimmen sie erst zu, wenn man ihnen erklärt, dass welche Chancen das Programm eröffnet. An manchen Familien scheitern die Kontaktbeamten.
Wie beim Fußball
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„Nicht jeder Jugendliche, der mit der Polizei zu tun hat, hasst die Polizei“, sagt der Pädagoge Hoeps. „Ich kenne einige, die es nachvollziehen können, dass der Polizist seine Arbeit macht. Das ist wie beim Schiri im Fußball. Prinzipiell wissen sie, dass sie Regeln verletzen und dass das nicht gut ist.“ Auch den Einfluss von Gangsta-Rap oder Influencern würde er nicht so hoch ansetzen. Die Herkunft sei ebenfalls nicht ausschlaggebend, sondern eher ein zusätzlicher Risikofaktor.
„Es spielt eine Rolle, ob jemand Teilhabe oder Ablehnung erlebt hat. Aber nicht jeder macht die gleichen Diskriminationserfahrungen. Die männerdominierte Rollenverteilung in Familien „ist ein großes Problem“. Letztlich suche aber „jeder Jugendliche nach Anerkennung, Wertschätzung und Aufmerksamkeit. Und manche versuchen, es sich selbst zu organisieren.“
Fast zwei Drittel der ehemaligen 58 Teilnehmer in Essen und Mülheim sind auf einem guten Weg. Hat die Einbeziehung der Freunde zum Erfolg geführt, die Arbeit mit der Schulklasse? Mal macht es Klick bei Rollenspielen oder beim Klettern, wenn eine die Verantwortung in Form eines Sicherungsseils spürt. Mal spürt einer Erfolg, wenn alle beim Kochkurs sagen: „Dein Döner war der beste!“ Aber immer ist es ein arbeitsintensiver Prozess.
Videos für die Sozialen Netze
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Thomas Rüth kennt die Verhältnisse und Strukturen in den Essener Stadtteilen gut, er ist Chef der ambulanten Jugendhilfe, der Kriminalprävention und der Quartierhausmeister des CSE (Caritas und SkF). Aber natürlich weiß auch er nicht, wer mit Raketen auf Polizisten geschossen hat: Klar ist, dass sich in Huttrop und Freisenbruch Gruppen von Jugendlichen über soziale Medien verabredet hatten. „Es waren auch deutsche Jungs und Mädchen dabei.“ Einzelne hätten sich dann vor diesem Publikum aufgespielt. „Die Motivation ist, Videos in die sozialen Netze zu stellen und sich abzufeiern“, sagt Rüth. „Das Gangster-Gehabe sehen sie im Unterhaltungsprogramm oder bei Rappern. Andere kommen nur dazu, weil dort etwas passiert.“
Es ist sehr schwierig, Tätern nachzuweisen, dass genau ihre Rakete einen Polizisten verletzt hat. Ohne einen begründeten Anfangsverdacht bringe auch ein Gespräch mit den Eltern oft wenig. Vor allem aber brauche die Justiz zu lange. „Von den Jugendlichen, die vor zwei Jahren bei ähnlichen Randalen in Altenessen, erwischt wurden, ist noch keiner verurteilt. Prävention funktioniert nicht ohne Sanktionen. Es geht darum, dass ein Rechtsstaat funktioniert und Jugendliche das vor Ort auch begreifen! Sonst ist der Schritt in die Kriminalität oft gefährlich kurz und häufig eine Frage des biografischen Zufalls.“
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Darum ist für Rüth die Frage nach der Nationalität falsch gestellt. „Wir haben gute Integrationskonzepte, aber wir haben schlechte Justizkonzepte.“ Solange man die Täter nicht identifizieren könne, bleibe es bei allgemeinen Appellen. Die Sozialarbeiter vor Ort sprechen durchaus Jugendliche an. Aber sie können nur sagen: „Seid ihr verrückt, da hin zu gehen. Bleibt da weg.“ Sie treffen auf „Pappenheimer“, die „natürlich nichts zugeben“, aber auch auf „ganz viele Jugendliche, die sich schämen für ihre Leute“, erklärt Rüth. „Es ist eine Frage der Sozialen Kontrolle. Die müssen wir auch in den Quartieren wieder herstellen.“