Kuckum. Die Dörfer sind gerettet, aber die Dörfler längst fort. Wer im Braunkohle-Revier blieb, kämpft weiter: fürs Klima und neues Leben im alten Ort.
Sie haben nicht gejubelt. Am Tag, als aus der Forderung „Alle Dörfer bleiben“ ein Versprechen wurde, als bekannt wurde: Kuckum, Keyenberg, Berverath, Unter- und Oberwestrich werden den Braunkohle-Abbau überleben – da waren die Bewohner nicht froh und erleichtert, sondern „wütend“ oder „sauer“. Denn für das Klima, finden sie, war es „ein schlechter Tag“, Millionen Tonnen Kohle würden ja trotzdem noch verstromt. Und was heißt schon: Alle Dörfer bleiben? Die meisten Dörfler sind ja weg.
500 waren sie mal in Kuckum, diesem offiziell „ländlichen Ortsteil von Erkelenz“, ein Zehntel ist geblieben, vielleicht etwas mehr. Der große Rest hat sich umsiedeln lassen, zehn Autominuten weit weg und außer Sichtweite der gigantischen Bagger und des noch größeren Lochs des Tagebaus. Dass sie jetzt wieder mehr als 350 sind im Dorf, liegt daran, dass nach dem Hochwasser Flutopfer aus dem Ahrtal hergezogen sind und seit Kriegsbeginn Flüchtlinge aus der Ukraine. Es gibt jetzt wieder Kinder auf dem Spielplatz, Waltraud Kieferndorf in ihrer lange einsamen Seitenstraße freut sich sogar über „Jugendliche, die herumlungern“. Trotzdem stehen knapp drei Viertel der Häuser immer noch leer.
Der Postbote verirrt sich zwischen Kuckum (alt) und Kuckum (neu)
Man kann das sehen an zugewachsenen Grundstücken, am Unkraut zwischen Pflastersteinen, an vernagelten oder Jahre nicht geputzten Fenstern an den meist zweigeschossigen Klinkerfassaden. Hier und da hängen die Rollläden auf halbmast, hinter grau gewordenen Tüllgardinen stehen ausgeblichene Kunstblumen – RWE arrangiert das so, damit die Häuser bewohnt aussehen, aber die Einbrecher kommen doch. Obwohl man meinen sollte, hier sei nichts mehr zu holen, aber sie reißen Kupferrohre aus der Wand, nehmen Dachrinnen mit, sogar Hausnummern aus Metall.
Hausnummern, die es in der Gegend nun zweimal gibt. Denn die, die gingen, haben neben den Kirchenglocken, Wegekreuzen, Denkmälern auch die Straßennamen mitgenommen. Nr. 31a, der Jahrhunderte alte Bauernhof der Dresens in Kuckum (alt), ist in Kuckum (neu) ein rotes Ziegelhaus, gerade wird vor der Tür der Vorgarten gerichtet. Das führt dazu, dass Post- und Paketboten sich verirren, kein Navi blickt hier noch durch. Auf Hinweisschildern stehen die Ortsnamen klein und mit „neu“ in Klammern. Auch Beton und Baumaterial werden immer wieder mal nach Kuckum (alt) geliefert, dabei sind diese Schilder zumindest eindeutig: „Baustellenzufahrt Umsiedlung“. Es gibt sogar „Zur Niersquelle“, dabei ist die Quelle natürlich nicht umgezogen (aber trotzdem nicht mehr da, das Grundwasser ist weg, das kennen die Menschen im Ruhrgebiet auch: Die Grube würde volllaufen, würde es nicht abgepumpt).
Sie haben „die Nachbardörfer sterben sehen“, auch Immerath ist weg
Zurück blieben die Standhaften, die viele für „naiv und blöd“ hielten, ahnt David Dresen: „Viele Leute finden uns immer noch gaga, weil wir daran geglaubt haben: Da geht noch was.“ Der heute 31-Jährige ist aufgewachsen „mit dem Wissen, dass es sein kann, dass wir wegkommen“. Aber der Gedanke war weit weg für die Familie, so weit wie Garzweiler selbst, „das war irgendwo dahinten“. Doch dann haben die Dresens „die Nachbardörfer sterben sehen“, Borschemich mit seiner großen Linde und Immerath, wo es Geschäfte gab und das Krankenhaus. Es kam doch der Tag, an dem sie dachten: „Dann müssen wir jetzt wohl gehen.“
Bloß war das nicht so einfach, statt 14.000 Quadratmetern bot RWE ihnen 2000 an und Geld, „für das hätten wir nicht mal ein halbes Haus gekriegt“, sagt David Dresen. Sie haben gerechnet, „Oma und Opa müssen mit“, deren Kuhstall sie zum Wohnhaus umgebaut hatten, die Pferde müssen weg… Es war „ein Deckmantel“, sagt Marita Dresen, 56, dass man ihnen sagte, alle würden „sozialverträglich entschädigt“. „Das kann man nicht entschädigen.“ Die Alten im Dorf sagten: „Wir würden lieber sterben, als das Haus verlassen.“ Und sie kennen so viele Geschichten, von dem Mann mit den zwei Herzinfarkten, von dem, der starb gleich nach dem Umzug. „Gebrochenes Herz“, sagt Waltraud Kieferndorf. „Es macht was mit den Menschen, gerade die älteren zerbrechen daran.“
„Es wusste ja kaum einer, dass hier noch Dörfer sind“
Anfangs also ging es um das Haus, die Wiesen, die Pferde, Marita Dresen fühlte sich „machtlos und hilflos“. Was passierte in der Gegend in den vergangenen Jahren, kann David Dresen deklamieren wie in einem Theaterstück. „Ich kann das auch mit Emotionen, aber dann schaffe ich es nicht“, es ist zu viel. Erster Aufzug, „Todesurteil für die Dörfer“, zweiter Aufzug „Neue Hoffnung“, dritter Aufzug Kohlekompromiss. Steigerung: Hambi und die Rettung des Waldes, Greta, Fridays for Future, Höhepunkt: Energiekrise. Es war ein Auf und Ab, aber sie müssen das so ehrlich sagen: „Die Klimakrise hat uns Aufwind gegeben.“ Plötzlich hörte man die Anwohner, „es wusste ja kaum einer, dass hier noch Dörfer sind“. Sie waren nicht die Linksradikalen unter den Aktivisten, sie waren die Konservativen, die Alteingesessenen, die einfach nur zuhause bleiben wollten. Hätte es aber nicht die dauernden Hiobsbotschaften gegeben, denkt David, „dann wären noch alle hier“.
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Wie Marita Dresen und Waltraud Kieferndorf, die irgendwann entschieden zu kämpfen. Und spürten, „in der Gruppe kann man etwas bewirken“. Als sie einmal dabei waren, wurde es ein größerer Kampf als der um ihre Häuser, ihre Heimat. „Wir haben viel erlebt, viel durchgemacht“, sagt Marita Dresen. Und Menschen verloren auf dem Weg des nicht geringen Widerstands. Vergangene Woche gab es einen Stammtisch der Gemeinde, ausdrücklich für alte und neue Dörfer. Jeder habe sich für eins der beiden eingesetzt, nun sei die Frage: „Wie kommen wir wieder zusammen?“ Marita Dresen war da, sie sagt, um eine Antwort sei es nicht gegangen. Und Waltraud Kieferndorf fühlt sich verraten von der Kirche, die als erste verkauft habe und nicht einmal mehr zur Entweihung noch mal aufgeschlossen: „Die Kirche hat das sinkende Schiff als erste verlassen.“
„Freuen kann sich nur, wem das Klima egal ist“
Diese beiden Familien aber sind noch da. Leben zwischen den gelben Protest-Kreuzen, die weniger geworden sind, mit Schaukästen überall, in denen ausgeblichene „Grundstücksvormerkungspläne“ hängen, Stand April 2022: 75 Flächen sind noch frei, die 334 verkauften Ersatzgrundstücke sind mit dem Namen der Käufer beschriftet, von Abels bis Zimmermann. An den Ortseingängen stehen noch Schilder, „Ja zur Heimat, nein zu Rheinbraun“, sie künden davon, wie lang der Kampf gedauert hat. Jetzt ist er gewonnen. Oder nicht? „Wir haben das geschafft“, sagt Waltraud Kieferndorf zwar, die Dörfer würden nicht mehr „eingenommen“. Aber: „Freuen kann sich nur, wem das Klima egal ist“, sagt David Dresen. „Man kann nicht mehr weggucken“, sagt seine Mutter Marita. „Das 1,5 Grad-Ziel können wir knicken“, sagt Waltraud Kieferndorf, 64.
„Wir sind benutzt worden“, sagt der 31-Jährige, „um etwas Schlechtes zu rechtfertigen“: dass nun eben doch noch sehr viel Braunkohle abgebaut wird bis 2030, dass die Kraftwerke „am Limit“ laufen. „Es spart gar nichts, es wird sogar schlechter.“ Die Politik habe auch diesmal wieder nicht die ganze Wahrheit gesagt, wie schon all’ die Jahre zuvor. Als so viele verkauften, fortgingen, weil sie nicht zu spät kommen wollten. Und nun war es zu früh, vielleicht. „Wir haben“, sagt Marita Dresen, „alle an Lebensqualität verloren.“
DER KAMPF UM DIE DÖRFER GEHT WEITER
Der Kampf um die Dörfer ist vorbei, aber „wir kämpfen schon wieder“: Waltraud Kieferndorf aus Kuckum ist eine von denen, sie sich schon jetzt Gedanken darüber machen, wie man die fast leergezogenen Orte am Rand des Tagebaus wiederbeleben kann. Diesmal wünschen die Bewohner sich Mitspracherecht beim Strukturwandel, sie wollen „kein Neubaugebiet von Erkelenz“ und auch keine neue Industriefläche sein. Den Wald wollen sie aufforsten, die Niersquelle wieder aktivieren, den fruchtbaren Ackerboden nutzen: „Der muss Natur bleiben!“
Ein erstes Papier hat schon 15 Seiten, erstellt von „den Leuten, die noch da sind“, sagt David Dresen. Die hätten sich gefragt, was sie ausmacht: „Wir sind geblieben, weil wir das Dorfleben schön finden.“ Also haben sie aufgeschrieben, was gut war, die Idylle, das Gemeinsame, der Tante-Emma-Laden, die kleine Kneipe, Gemüse vom Bauern… Und das gestrichen, was nicht gut war, Schützenfest, Rassismus und dass nur Alte oder Männer sagten, wo’s lang ging.
Das Geld für den Strukturwandel ist da
Energie-autark wollen sie sein (und nie mehr abhängig von großen Konzernen), eine gute Verkehrsanbindung haben, auf regionale Versorgung setzen. Und am besten ein Leuchtturmprojekt entwickeln, das die Menschen ins rheinische Revier zieht. Das Geld für den Strukturwandel sei da, sagt Dresen: „Wir müssen die Dörfer cool machen, dann will keiner mehr in die Stadt.“ Die liegt mit Düsseldorf, Aachen, Köln, Mönchengladbach ja gleich mehrfach nahe.
Und dann die Kultur: Räume gebe es schließlich, ohne Ende, Pfarrhäuser, entweihte Kirchen, man könnte Partys feiern, Konzerte geben, Fitnessstudios für alle öffnen. Und die leeren Wohnhäuser endlich wieder jenen geben, die so verzweifelt Wohnraum suchen. Dass jemand dagegen sein könnte, fürchten die Dörfler nicht: „Es sind nur noch die übrig, die das wollen.“
David Dresen selbst würde Musik machen in diesem Dorf der Zukunft, er arbeitet nebenbei als DJ. Und er wünscht sich eine neue Schule, wie es früher eine gab. Der 31-Jährige, derzeit im ehrenamtlichen Dienst der Dorf-Zukunft, ist eigentlich Lehrer.
>>INFO: 2030 SOLL SCHLUSS SEIN MIT DER BRAUNKOHLE
Das Land NRW, der Bund und der Energiekonzern RWE einigten sich in der vergangenen Woche auf einen neuen Plan zum Ausstieg aus der Braunkohle: Schon ab 2030 wird RWE im rheinischen Revier keine Braunkohle mehr abbaggern. 280 Millionen Tonnen sollen in der Erde bleiben, damit sind fünf Dörfer „gerettet“. Um die Energieversorgung zu gewährleisten, sind die Kraftwerke derzeit aber hochgefahren, das Dorf Lützerath soll den Baggern noch weichen. Proteste sind bereits angekündigt.