Keyenberg. Unsere beliebtesten Plus-Texte: Heute mit einem Besuch in Keyenberg. Das Dorf soll 2023 verschwinden, für den Tagebau Garzweiler.

Dieser Artikel ist zum ersten Mal am 4. Oktober erschienen.

Ingo Bajerke stapft über den Weg zwischen den Grabstätten, die meisten sind von Mulch bedeckt und ohne Steine, weil die Toten bereits umgebettet wurden. Er bleibt vor dem Grab seiner Eltern stehen. Hier liegt der Vater, der gesagt hatte, er ziehe eher unter die Erde als weg, und der vor drei Jahren starb. Hier liegt die Mutter, die Ende vergangenen Jahre einfach aufhörte zu essen, sie ist die letzte Keyenbergerin, die auf diesem Friedhof bestattet wurde. Auch die Großeltern von Bajerke liegen hier, und an diesem Ort geht es ihm besonders nahe, dass sein Dorf bald nicht mehr sein soll.

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Keyenberg, rund 15 Kilometer südlich von Mönchengladbach, liegt am Rande des Tagebaus Garzweiler. Die gewaltige Grube klafft direkt am Ortsrand auf. In ihr soll das Dorf ab Ende 2023 verschwinden, und mit ihm all die Orte der Erinnerungen. Die alte Volksschule, vor der Vater Bajerke als Kind auf einem verblichenen Foto zu sehen ist. Die kleine Mauer neben der Schule, die der Großvater hochgezogen hat. Die Kirche, in der Ingo Bajerke Ministrant war.

Das ganze Leben im Dorf verbracht

Sein ganzes Leben hat er in Keyenberg verbracht. 47 Jahre. Freiwillige Feuerwehr, Spielmannszug, Karnevalsverein. Das ganze Programm. Ingo Bajerke ist einer der wenigen Bewohner, die ihr Eigentum noch nicht an den Energiekonzern RWE verkauft haben, die noch nicht umgesiedelt sind. An diesem usseligen Herbsttag hat er den Kragen seiner schwarzen Jacke hochgeschlagen, die Hände meistens in den Taschen, er redet in diesem weichen rheinischen Dialekt, der Wut oft wie Verwunderung klingen lässt. „Es ist ein Wahnsinn“, sagt Bajerke auf dem Weg durch das Dorf immer wieder, so, als könne er noch immer nicht glauben, dass das alles geschieht.

Graffito an der Wand der alten leerstehenden Kneipe von Keyenberg.
Graffito an der Wand der alten leerstehenden Kneipe von Keyenberg. © FUNKE Foto Services | Kai Kitschenberg

Dabei war es absehbar. Schon vor 40 Jahren sagte ihm sein Vater, dass die Braunkohle irgendwann auch Keyenberg fressen werde. „Ich konnte das natürlich nicht glauben. Das war für mich unvorstellbar.“ Jetzt ist maximal ein Drittel der ursprünglich 900 Keyenberger noch im Dorf. Die Metzgerei, der kleine Laden, die Gaststätte, alles dicht. Nur die Bäckerei an der Kirche hat noch geöffnet. Ganze Straßenzüge sind leergezogen, vor einigen Häusern stehen Container. „Ein Container bedeutet: Da geht wieder einer weg“, sagt Bajerke.

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An einigen Häusern sind Einbruchsspuren. Nachts kommen organisierte Banden, erzählt Bajerke, und plündern die leerstehenden Gebäude aus, holen das Metall heraus. „Früher konnte man sein Fahrrad unabgeschlossen vor der Kneipe stehen lassen. Heute wäre es am nächsten Tag weg.“ Mit den Menschen ist die Sicherheit gegangen. Die alten Tannen am Friedhof vertrocknen, weil die Pumpen von RWE das Grundwasser sinken lassen. Mit den Maschinen soll das Sümpfungswasser abgeleitet werden, damit der Tagebau nicht volläuft.

Zerstört RWE Kayenberg ohne Not?

Ab und an fahren Autos von RWE vorbei, dann schnaubt Bajerke Unfreundliches. Er glaubt, dass der Konzern Keyenberg ohne Not zerstören will, dass sein Dorf nur aus Prinzip geopfert werden soll. Laut einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung hat er Recht. In ihr heißt es, dass in den Tagebauen Garzweiler und Hambach ausreichend Braunkohle vorhanden sein, um den Bedarf bis zum Kohleausstieg zu decken. Deswegen ist Ingo Bajerke im Widerstand.

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Aber Bajerke verhandelt auch mit dem Konzern über den Verkauf seines Hauses. „Was soll ich anders machen?“ Er hat sich schon ein Grundstück in Neu-Keyenberg reservieren lassen, etwa fünf, sechs Kilometer westlich im Norden von Erkelenz. Dorthin ist ein großer Teil der früheren Bewohner von Keyenberg gezogen. RWE, das räumt Bajerke ein, entschädigt ordentlich. Eine Fahrt in das neue Dorf zeigt, dass Geld nicht alles ersetzen kann.

Der Weg nach Neu-Keyenberg führt durch Venrath. Im Ortskern hängt an der früheren Gaststätte Bruns noch das vergilbte Schild „Stop Rheinbraun“. Das ist Keimzelle des Widerstands gegen die Abgrabungen des Konzerns, der heute RWE heißt. Die Kneipe hatten Menschen aus dem Widerstand erworben. Auch Venrath sollte in der Grube verschwinden, ist aber mittlerweile aus den Planungen herausgenommen.

Neu-Keyenberg: „Willkommen im Legoland“

Einige Menschen aus dem Dorf, sagt Bajerke, solidarisieren sich mit den Nachbarn aus Keyenberg. Der Widerstand wächst wieder. Die Dörfer, die jetzt noch bedroht sind, neben Keyenberg sind es Kuckum, Berverath, Ober- und Unterwestrich, sie könnten zu einem Symbol für den Kampf gegen die Braunkohle werden, wie zuvor der Hambacher Wald.

Alleinstehende moderne Einfamilienhäuser, breite, gerade Straßen, ein wenig Grün, junge Bäume am Wegesrand, vielerorts Baukräne. Die Neubausiedlung, in der die Menschen aus den Dörfern eine neue Heimat finden sollen. Keine Kneipe. Keine Bäckerei. Keine Metzgerei. Kein Laden. Neu-Keyenberg und Neu-Kuckum sehen aus, wie diese Vorstadtsiedlungen aus amerikanischen Spielfilmen.

Helmut und Hilde Kehrmann vor ihrem neuen Haus in Neu-Keyenberg.
Helmut und Hilde Kehrmann vor ihrem neuen Haus in Neu-Keyenberg. © FUNKE Foto Services | Kai Kitschenberg

„Willkommen im Legoland“, ruft Hilde Kehrmann. Sie und ihr Mann Helmut stehen vor ihrem Neubau, er ist noch eine Baustelle. Helmut Kehrmann, 66, kurzes Haar, weißer Siebentage-Bart, schwarzer Kapuzenpulli, steht fröstelnd im Wind, der über die Fläche pfeift. Er und seine Frau sind nicht freiwillig hier. Sie hatten ein Haus auf einem Grundstück, das der Kirche gehörte. Erbpacht. Die Kirche verkaufte das Land. „Also mussten wir unser Haus verkaufen.“

„Um 20 Uhr sind sie zu Hause, alleine, und heulen“

Jetzt, sagt Kehrmann, „haben wir ein Haus, aber keine Heimat mehr“. Keyenberg, das waren die krummen Straßen, die uralten Rotbuchen, die Bauernhöfe, das Wäldchen, wo es den ersten heimlichen Kuss gab. „Hier gibt es nichts kulturhistorisch Wertvolles, nichts, was ein Heimatgefühl ausmacht.“ Er atmet tief durch. „Das tut schon weh.“

Kehrmann sagt auch, viele hätten sich mit der neuen Situation arrangiert. Vordergründig. „Die erzählen dann, wie toll es hier ist. Und um 20 Uhr sind sie zu Hause, alleine, und heulen.“ Peter Zimmermanns, 75, könnte so jemand sein. Zimmermanns, dicker, weißer Schnauzbart, Baseballkappe, wattierte schwarze Weste, unterwegs mit seinem kleinen Hund Krümmel, ist auch einer derjenigen, die Zeit ihres Lebens in Keyenberg gewohnt haben. Viele, die ältere Häuser besessen hätten, seien nun froh, dass sie etwas Neues hätten, sagt er. Er sagt aber auch: „Ich habe mich da schwer mitgetan. Es ist eine Umgewöhnung mit 75.“ Das Dorfleben werde ein anderes sein, schwant ihm. „Das muss sich alles einwachsen.“

Auf dem Friedhof der Neubausiedlung geht Ingo Barjeke an den Gräbern derjenigen vorbei, die umgebettet wurde. Denen aus Keyenberg, denen aus Kuckum. Er zeigt auf ein neues Grab: „Der hat gerade neu gebaut. Noch vor dem Einzug ist er gestorben. Jetzt wohnt seine Frau allein in dem Haus.“