Kerpen. . 3000 Demonstranten stellen sich gegen Tagebau im rheinischen Braunkohle-Revier, „so viele wie noch nie“. Gleis-Blockaden stören RWE-Kraftwerk.
Noa trägt Pappnase, der Boxer ein Kartoffelnetz und Christine ein Alpenveilchen im Topf. Bei allem, was rot ist – Schirme, Hüte, Fußballtrikots: So markieren 3000 Menschen am Samstag eine rote Linie in der Landschaft. Hinter ihnen der Hambacher Forst, jener Wald, der kaum noch zu retten ist. Unter ihnen der sandige Pfad, der einmal die Autobahn war. Vor ihnen der Abgrund: Braunkohle-Tagebau. „Da siehst du“, sagt eine Demonstrantin doppeldeutig zu ihrem Kind, „wie die Erde schon abgekratzt ist.“
So viel Leben war lange nicht mehr in Manheim „(alt)“: ein Ort auf Kohle, ein Ort deshalb im „Umsiedlungs-Status“. Die meisten Dörfler sind längst weg, ließen ihre Häuser zurück, die Fenster mit Brettern vernagelt, die Briefkästen zugeklebt, die Gärten verwildert. Trotzdem haben die Parteien Wahlplakate aufgehängt, für „Sicherheit und Ordnung“ wirbt die CDU am Laternenpfahl. Wähler wohnen hier indes kaum noch. In leeren Gebäuden sind Flüchtlinge untergebracht, nun spielen ihre Kinder mit den Stoppschildern für die Kohle und probieren Kleider aus dem „Rote-Klamotten-Fundus“ für Demonstranten.
Im "Zentrum des Wahnsinns"
Hier verläuft die „rote Linie“, für einen Tag ist Manheim Mittelpunkt, dabei liegt es immer im „Zentrum des Wahnsinns“, sagt Andreas Büttgen von der Bürgerinitiative. Dieser Teil des Widerstands will friedlich sein und wird eine Art Familientreffen, „vom kleinen Kind bis zum alten Mann“, frohlockt Organisator Todde Kemmerich, der das „großartig“ findet. Man singt Protest zur Klampfe, isst kalten Couscous aus der „Küfa“, der Küche für alle, und macht für die Fotografen die „Welle“: „Es geht um Bilder“, sagt Kemmerich offen. Er war dabei, als es 2015 im Tagebau Ausschreitungen gab, „brutale Szenen“, sagt er, „gruselig“.
Diesmal wollten sie es anders, diesmal machen die großen Umweltverbände mit, diesmal loben sie sogar die Polizei, sagen Sätze wie: „Kohleausstieg von heute auf morgen geht nicht, aber wenn nicht 2020, dann 2023.“ Sie kennen aber auch ihre Gegner: „Wir haben jetzt ‘ne schwarz-gelbe Regierung, das ist eigentlich Sargnagel.“ In Manheim protestieren Angereiste aus dem ganzen Land, eine Frau sagt: „Ich will das mal aus der Nähe sehen, das muss ganz schrecklich sein.“
Proteste dauern noch bis Dienstag
Die Proteste unter dem Motto „Klima schützen! Wald retten! Bagger stoppen!“ im rheinischen Braunkohle-Revier sollen noch bis Dienstag andauern.
Demonstranten in drei Protestcamps fordern den sofortigen Ausstieg aus der Kohlekraft. Sie habe „keine gesellschaftliche Akzeptanz mehr“.
Es gehört zum Gemeinschaftsgefühl, dass sie sich selbst besingen. „So viele Menschen haben hier noch nie demonstriert gegen den Irrsinn“, sagt Dirk Jansen vom BUND. Sie feiern „die größten Proteste, die das Braunkohle-Revier je gesehen hat“, und zählen dabei unaufgeregt jene mit, die gerade Bagger besetzen und Gruben stürmen. Denn gleichzeitig greifen anderswo blaue oder pinkfarbene „Finger“ in die Polizeiketten, so heißen die Aktionsgruppen der zivilen Ungehorsamen. „Yeah!“, jubeln die online, „vier Blockaden stehen!“
Leute in weißen Anzügenblockieren die Gleise
Dabei sitzen sie. Weit weg von der „roten Linie“, die Grube ist in Garzweiler, auf den Schienen vor dem Kraftwerk Neurath sind sie so hartnäckig, dass es kurzfristig seine Leistung drosseln muss. 30 Kilometer liegt alles auseinander, soviel Polizei kann nicht zeitgleich überall sein. Und so passiert es doch, dass Leute in weißen Einmal-Anzügen Gleise blockieren und Züge stoppen. Dass Einsatzkräfte Hunderte wegtragen müssen und am Abend die Bahn von deren größtem Gegner dafür brauchen: Der Transport, heißt es, „erfolgte mit polizeilich in Anspruch genommen Zügen von RWE“.
Am Sonntag versuchen die Protestler es trotzdem wieder, hängen Transparente an Bagger, ketten sich mit Fahrradschlössern an Förderbänder. Die Polizei klingt amüsiert, man habe das „ruck-zuck“ gelöst. Auch 2017 gibt es ja so etwas wie Demo-Romantik: Jemand hat den Bagger-Besetzern im Morgengrauen Kaffee gebracht. Nur sieht heute die Welt zu, wenn sie will – man bedankt sich via Twitter.