Erkelenz. Im Rheinischen Revier macht der Kohleausstieg den Bürgern neuen Mut: Neun Familien kämpfen gegen ihre Umsiedlung, zur Not wollen sie klagen.
Es ist nur eine kleine Obstwiese. An den Apfelbäumen hängen noch letzte Früchte eines Sommers, der vieles verändert hat am Rand des Rheinischen Braunkohlereviers: Klimakrise und Kohleausstieg machen den Menschen in den Dörfern neue Hoffnung. Plötzlich kämpfen sie wieder, für den Erhalt ihrer Häuser, ihrer Heimat. Die Wiese ist das Symbol ihres Widerstands, Bollwerk gegen die Bagger von RWE.
Am Ortseingang von Borschemich steht ein hohler Pfeil, der Ortsname ist weg, der Ort auch. „Einwohner: 0“, steht über Borschemich im Internet. Nach Immerath führt noch ein Schild, aber es führt ins Nichts. Es gilt „Durchfahrt verboten“, aber die Durchfahrt würde auch geradewegs enden an der Abbaukante. Dort drüben bei den Bäumen, da stand der Dom, an ein paar letzten Häusern in der Kleinen Kirchstraße hat man Fenster und Türen vernagelt. Die Bäume hier sind nur noch abgebrochene Stümpfe, „in den neuen Dörfern“, sagt Ralf Bußberg, „gibt es keine großen Bäume“.
Menschen vertreiben für eine Energieform aus dem letzten Jahrhundert?
Bußberg, 49, fährt über eine Straße, die bald schon gesperrt werden soll, von hier aus kann er gut zeigen: Borschemich und Immerath haben längst Platz gemacht für Garzweiler II. Die riesenhaften Arme der Braunkohlebagger sind die einzige Erhebung am Horizont. Kuckum, Berverath, Unter- und Oberwestrich sollen in den kommenden drei Jahren weichen, auch aus Keyenberg ist die Hälfte der Bewohner schon fort. Ralf Bußberg aber sagt: „Es kann doch heute nicht mehr sein, dass Menschen vertrieben werden für eine Energieform aus dem letzten Jahrhundert.“
Deshalb haben sie die Wiese gekauft. 300 Quadratmeter am Ortseingang von Keyenberg, immer schon gehörte sie einer Familie aus dem Ort, nun auch noch acht anderen. Und die haben RWE nun wissen lassen: Das Grundstück wird zu keinem Preis verkauft! Wenn aber das Unternehmen die Wiese nicht kriegt, dann auch Keyenberg mit seinen gerade noch 500 Einwohnern dahinter nicht. Zur Not wollen die Familien es auf ein Enteignungsverfahren ankommen lassen und klagen. Sie haben eine „Solidargemeinschaft“ dafür gegründet, sie heißt „Menschenrecht vor Bergrecht“. Weil sie finden: Für die Versorgungssicherheit braucht der Energieriese ihre Dörfer nicht. Nicht mehr. Oder zumindest soll er das erst einmal vor Gericht beweisen.
Schild bittet Gott um Hilfe: „Herr, schütze unsere Heimat!“
„Wir erwarten heftigen Druck“, sagt Ralf Bußberg, gemeinsam sei der leichter zu tragen. Bußberg selbst wohnt nicht in einem der betroffenen Dörfer, „mein Haus bleibt stehen. Ob es gerade stehenbleibt, ist eine andere Frage.“ Aber er sagt, „Heimat hört nicht an der Dorfgrenze auf“. Und er ahnt, bald werden die Pumpen auch zu ihm nach Erkelenz kommen, mit ihnen Schmutz, Lärm, Beleuchtung 24 Stunden lang. Die Wälder und Wiesen, wo er jetzt noch Fahrrad fährt, die werden bald „ersetzt durch ein unendlich tiefes Loch, Krach und Dreck auf Generationen“.
Die Gemeinschaft will das nicht, „wir lieben unser Zuhause“, hat Britta Kox aus Berverath auf ihrer ersten Pressekonferenz gesagt. „Hier lachen, weinen und arbeiten wir, hier leben wir. Und deswegen sagen wir: Wir bleiben.“ Marita Dresen, deren Bauernhof in Kuckum seit dem 17. Jahrhundert der Familie gehört, will ebenfalls nicht freiwillig gehen: „Mir blutet das Herz, wenn ich mir vorstelle, dass mein gesamtes Leben im Loch eines Braunkohlebaggers verschwinden soll.“ Auf ihrer Wiese hat jemand ein Schild aufgestellt: „Herr, schütze unsere Heimat!“
Gelbe Stopp-Schilder: „Finger weg von unseren Dörfern!“
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Dabei ist die schon nicht mehr so, wie sie mal war. „Die Dorfgemeinschaft ist kaputt“, sagt Barbara Ziemann-Oberherr in Keyenberg. Der Supermarkt ist längst weg, im Sommer hat der Metzger zugemacht, die Kirche gehört schon RWE (die Gemeinde soll das erst nach der Unterschrift erfahren haben). Ziemann-Oberherr sagt, man spüre „den Herzschmerz der Menschen: Man kann nicht einfach jemandem die Heimat wegnehmen.“ Wie so viele hier hat auch die Familie Oberherr auf dem elterlichen Bauernhof ein gelbes Kreuz im Garten stehen. Als Zeichen gegen die Braunkohle, so wie andernorts in Deutschland gegen die Atomkraft, aber längst bedeutet es: „Ich gehe hier nicht weg. Finger weg von unseren Dörfern!“
Sie stellen die Kreuze jetzt wieder häufiger vor die Tür, neben die „Stopp Rheinbraun“-Schilder an den Laternen. So lange gibt es den Widerstand schon: Rheinbraun ging schon 2003 in der RWE Power AG auf. Nun aber hat der geplante Kohleausstieg den Menschen Mut gemacht, auch, dass ein Gericht die Abholzung des Hambacher Forsts stoppte. „Wir spüren den Umschwung“, sagt Barbara Ziemann-Oberherr, die Leute von außerhalb seien positiver, zeigten mehr Verständnis.
Anwohnerin träumt von Keyenberg als „Touristendorf“
Mancher in der Gegend von Garzweiler II wartet nun ab, zieht noch nicht um, auch wenn er längst müsste. Barbara Ziemann-Oberherr hat bereits Risse in der Wand, aber sie will trotzdem nicht weg: „Für ein älteres Haus kriegst du in Neu-Keyenberg kein neues“, auch dort fürchtet sie Bergschäden und überhaupt: Sie hat jetzt 4200 Quadratmeter Garten, „und dann soll ich mich im Neubaugebiet in so einen Handtuchgarten setzen“? Im Schaukasten der Kirche aber hängt der „Grundstücksvormerkungsplan“.
Familie Oberherr jedenfalls ist entschlossen, Mutter Barbara, 59, hat schon Pläne für die Zeit „danach“, wenn sie erst gewonnen haben gegen RWE, wenn also Kuckum, Keyenburg und die anderen bleiben: Man hat doch Wohnraum in den Dörfern, eine tolle Anbindung, Köln, Mönchengladbach, danach lecken sich junge Familien die Finger. „Was meinen Sie, wie schnell die Dörfer wieder voll sind?“ Barbara Ziemann- Oberherr träumt von einem Café an der Kirche, „wir machen ein Touristendorf daraus, wir zeigen das Loch, egal, wie es aussieht“.
In Keyenberg stehen die Bagger schon „vor der Tür“
Die Realität im November 2019 ist allerdings die: Die Bagger nagen immer näher vor Keyenberg, RWE hat die entsprechende Genehmigung. Ralf Bußberg sagt, die Bagger „stehen vor der Tür, die wollen Fakten schaffen“. Und auch Barbara Ziemann-Oberherr glaubt, das Unternehmen handle ganz bewusst, Bagger vor Obstwiese: „Damit wir wissen, die kommen.“
>>INFO: GARZWEILER II: ABBAUGENEHMIGUNG BIS 2035
Das Braunkohle-Abbaugebiet „Garzweiler II“ ist 48 Quadratkilometer groß und wurde 1995 genehmigt. Ursprünglich war bei Mönchengladbach ein Gebiet von 68 Quadratkilometern vorgesehen. Im März 2014 kündigte die rot-grüne NRW-Landesregierung an, die zukünftige Tagebaufläche zu verkleinern. Im Juli 2016 hat die NRW-Landesregierung entsprechend entschieden.
17 Ortschaften wurden bereits umgesiedelt und abgebaggert. Fünf weitere Dörfer bzw. Stadtteile von Erkelenz sollen nach den Plänen noch folgen.
In einer Stellungnahme zu „Menschenrecht statt Bergrecht“ wies RWE bereits Ende September darauf hin, dass die Kohlekommission die laufenden Umsiedlungen im Rheinischen Revier nicht in Frage gestellt habe. Ausdrücklich widersprach der Konzern der Aussage, die Braunkohle unter Keyenberg werde nicht mehr benötigt. Vielmehr werde sie schon zu Beginn der 20er-Jahre für den Betrieb der Kraftwerke gebraucht.
Nach dem Willen der Kohlekommission soll die Stromgewinnung aus Kohle in Deutschland bis zum Jahr 2038 auslaufen. Dann soll das letzte Kohlekraftwerk vom Netz gehen.