Dortmund. „Lesen für Bier“: Das beliebte Literaturformat gibt es nun auch in Dortmund. Vorgetragen wird alles, vom Gedicht bis zur Bedienungsanleitung.

Mehr Drama geht nicht als die Bedienungsanleitung einer schnöden Kaffeemaschine. Und dieser Kassenzettel: ein Gedicht! Es kommt eben immer drauf an, was man daraus macht. Yannick Steinkellner und Florian Stein lesen nicht nur, die leben solche Texte, die lachen und leiden. Und sie tun es für flüssigen Lohn. „Lesen für Bier“ heißt die Idee: Vorgetragen wird, was das Publikum mitbringt; wenn das besser ist als die Performance, trinkt der Gast. Es fließt viel Bier an diesem Abend in Dortmund.

Sie hatten schon ein Auto-Quartett in der roten Kiste für Zuschauer-Prosa, Schulhefte aus der 2. Klasse, aber eben auch die Lieblingsstelle aus dem Lieblingsbuch. Heute liegen ein paar Bücher darin, handgeschriebene Zettel, „wo darf ich denn meinen Text abgeben?“, fragt eine Frau: Es wird ein Kasten Buntes. Das Duo wird arbeiten mit dem, was da ist. Manchmal nämlich sei ja etwas „nicht vortragenswert, aber funny“, warnt Yannick Steinkellner. „Wenn’s inhaltlich schlecht wird, seid ihr schuld.“

Literaturabend mit Aussicht: „Lesen für Bier“ läuft in der Bibliothek des Dortmunder U.
Literaturabend mit Aussicht: „Lesen für Bier“ läuft in der Bibliothek des Dortmunder U. © FUNKE Foto Services | Jakob Studnar

Beide Vorleser sind Poetry-Slammer, also selbst Autoren

Es wird tatsächlich passieren, aber das später. Viermal Räuspern, einmal Aufstoßen (es gab auf der Bühne schon vorher ein Bier), dann legt Florian Stein los mit einem eigenen Werk über seine 100-jährige „Omma“: dem „quietschfidelen Albtraum des demografischen Wandels“. Es ist eine Übung, der Applaus für den Vortrag klingt etwas dünner als der für den Text: „Entweder du liest ganz beschissen, oder die Leute mögen dich nicht“, schließt Yannick daraus. Es ist tatsächlich aber so: Die Omma-Hommage war ganz wunderbar, beide Vorleser gehen sonst durchs Leben als Poetry-Slammer, sind also Autoren. In diesem Fall geht das Bier auf die Bühne: Text und Vortrag kamen ja beide von „Flo“.

Der zweite soll deshalb etwas mit „mehr Fassungsvermögen“ sein, zwei lose Blätter, die aussehen „wie ein Instagram-Post“. Yannick merkt erst beim Lesen, „das war Lyrik auch“, zwei tolle Gedichte aus der Feder von Nabil: ein Prost fürs Publikum! 30 Besucher in der Bibliothek des Dortmunder U haben auch so schon eine Pulle unter dem Stuhl stehen, man hat ihnen eine Kühltruhe zwischen die Bücherschränke geschoben, es gibt aber auch Wein und Wasser. Man könnte also auch ohne Alkohol lustig sein, aber er hilft.

Anschlag am schönsten aller Schlusssätze

Vor allem junge Leute lauschen den Vorträgen. Und brachten Literatur, Witze, eigene Gedichte mit. Und einen Kassenbon.
Vor allem junge Leute lauschen den Vorträgen. Und brachten Literatur, Witze, eigene Gedichte mit. Und einen Kassenbon. © FUNKE Foto Services | Jakob Studnar

Denn es geht jetzt um ein Manuskript zum Thema „Schlecht ernähren“, das Auditorium empfiehlt die Stimmungslage „heiter“, und Florian muss das Mikro kurz weghalten, weil er wirklich lachen muss. „Ich habe das nicht gecheckt, was ich vorlese“, es ist schon per se nicht ernst gemeint, was da steht: Doppelt gelacht hält besser, aber es wird ein bisschen viel des köstlichen Scherzes. „Wütend!“, kommt die Regieanweisung aus dem Off, Florian brüllt, die Adern an seinem Hals treten hervor, es geht um ein Mammut, Mineralien und das „fucking Krümelmonster“. Florian ist erst auf Seite zwei, da schlägt er an am schönsten aller Schlusssätze: „Je weißer das Brot, desto eher bist du tot.“ (Und das Bisschen, was ich esse, kann ich auch trinken.)

Noch ist die Zunge nicht zu schwer für Gedichte, Yannick versucht sich an Brecht, „nur die linke Seite, also Doppel-Links“. Deklamiert wird in zornigem Österreichisch, denn da kommt der Dialekt des 29-Jährigen her. Die folgenden Verse aber stammen von einer Französin, weshalb aus Liebe „Li-bä“ wird und aus „höher“ etwas, das wie „öä“ klingt. „Ich entschuldige Sie wegen Ihrer guten Absicht.“ Dabei weiß ja noch keiner, dass nun die Witze von Phil kommen. Florian sucht rauf und runter, es sind alles Späße unter der Gürtellinie, und das Niveau sinkt sogar noch tiefer. Der 32-Jährige fahndet nach Perlen auf den eng beschriebenen Seiten und scheitert. Warum die Leute trotzdem lachen? Nicht über die schmutzigen Witze, es ist lustig, wie Flo sich quält. Eindeutig: Das Bier gebührt ihm.

Lesestoff: Im Westfalenpark schwammen 24 Fische – vor 50 Jahren

Florian Stein lebt, liebt, lacht, die Texte, die er vorliest.
Florian Stein lebt, liebt, lacht, die Texte, die er vorliest. © FUNKE Foto Services | Jakob Studnar

Das Super-Horoskope-Buch aus der ersten Reihe wird „mystisch“ bestellt. DJane Kleinradhülse (sic!) legt mystische Musik unter das Kapitel über die „Widder-Frau“, es ist der Moment, an dem die Ersten den Raum verlassen. Sie müssen vor Lachen. Und werden bald wieder rennen, denn für diese Einlage gibt es gleich drei Bier: für den Vorleser, für die Besitzerin des Buches und für die einzige Widderfrau im Raum. Es wird noch die Geschichte geben von einem Frosch in Badehosen, was gut passt zu Yannicks froschgrünem Pulli. Einen Auszug aus einem 50 Jahre alten Buch über Dortmund, in dem so elementare Weisheiten stehen wie, dass im Westfalenpark 24 Fische schwimmen und ein Herbert in der Stadt die meisten Bierdosen besitzt (mit Adresse!). Und jenen Beleg aus der Buchhandlung, den Flo inszeniert wie einen Liebesakt, aber kurz vor dem Höhepunkt in einer Sportreportage enden lässt: „Tooooooooor!“ Treffer versenkt.

Es gibt aber auch dieses Kapitelchen aus „TKKG“, das so unschuldig daherkommt und freudig erwartet. Und dann steht Rassismus drin, Sexismus, Körperfeindlichkeit, alles politisch unkorrekt und „schwer problematisch“: Yannick fragt „einfach nicht, wer das mitgebracht hat, damit der sich nicht schämen muss“. Das überwiegend junge Publikum findet die Sache peinlich, die Buchseite wird tapfer zu Ende gebracht, dann angewidert weggelegt. „Das war jetzt kurz unangenehm für alle, aber es bringt uns weiter im Leben.“

Unter der roten Lampe der Kaffeemaschine geht der Künstler in die Knie

Also noch eine Portion Lebenshilfe: Die Blonde aus Reihe 2 hat die Anleitung für ihre Kaffeemaschine in die Kiste geworfen, der Vortrag, findet Yannick, müsse „spannend und dramatisch, gegen Ende etwas verzweifelt“ sein. Und hat man je so gezittert unter „900 Watt, 1,5 Liter für bis zu zwölf Tassen“? Stein schreit die Verbrennungsgefahr heraus, der „Vorgang der Entkalkung“ ist bei ihm ein einziger Horror, die Stimme kippt unter drohendem Spülmittel, der „abnehmbare Filter“ rührt zu Tränen – und am Ende bricht der Künstler unter den all den „Hinweisen“ zusammen, geht vor der „roten Leuchte“ in die Knie. Zum Niederknien.

Pulle Bier unterm Stuhl: Das ist der Lohn für gute Texte oder gute Vorträge.
Pulle Bier unterm Stuhl: Das ist der Lohn für gute Texte oder gute Vorträge. © Funke Foto Services | Jakob Studnar

Heftiges Klatschen für Florian Stein, der doch nur „ein bisschen was vorgelesen“ hat, wie Gastgeber Yannick Steinkellner behauptet. Und dann sagt der nach eineinhalb Stunden tatsächlich auch: „Ihr habt zu wenig Texte mitgebracht. Wir brauchen mehr Auswahl.“ Aber an Bier war es wirklich genug.

>>INFO: LESEN FÜR BIER

Die Veranstaltung „Lesen für Bier“ ist ein Literaturabend, den es in der Form des Impro-Theaters in Deutschland seit fast zehn Jahren gibt. Erstmals fand er in Nürnberg statt.

Im Ruhrgebiet wird das Format von „Wortlaut Ruhr“ organisiert, das vor allem für Poetry Slams steht. „Lesen für Bier“ gab es bereits am Schauspielhaus Bochum. In Dortmund läuft der Abend im Rahmen des „Kleinen Freitag“, einer Reihe zum 10. Geburtstag des Dortmunder U. Auch im nächsten Quartal soll es wieder eine Veranstaltung geben – dann möglichst auf der Dachterrasse.