Essen. Auch anderthalb Jahre nach dem Verfassungsgerichtsurteil ist die Sterbehilfe noch immer nicht neu geregelt. Der Essener Sebastian Spree klagt an.

Jeder Mensch hat „die Freiheit, sich das Leben zu nehmen“. Urteilte das Bundesverfassungsgericht. Eineinhalb Jahre ist das her, 18 Monate, um die Sterbehilfe in Deutschland neu zu regeln. Doch die ist laut Strafgesetzbuch immer noch verboten, der Gesetzgeber tat bisher: nichts. Nun klagt ein Essener an: Der Richterspruch und damit die Würde von Sterbewilligen, sagt Sebastian Spree, würden „missachtet“. Diese „Hinhaltetaktik“ sei „unwürdig und unanständig“.

Für Spree war der 26. Februar 2020 ein guter Tag, sogar „der schönste in fünf Jahren“ – und er hat nicht viele gute Tage. Der 38-Jährige leidet seit seiner Jugend unter Depressionen, vor acht Jahren kamen auch körperliche Beschwerden hinzu, Symptome, die die Ärzte allesamt „psychosomatisch“ nennen. Sebastian Spree will dieses Leben nicht mehr leben, in das er „nie richtig hineingefunden“ hat, das er für „nicht lebenswert“ hält. Eines, „in dem alles fehlt“, sagt er, das kein Berufs- und kein Sozialleben ist: „Eigentlich habe ich noch nie richtig gelebt.“

Macht Druck in Berlin und klagt gegen das Bundesinstitut für Arzneimittel: Sebastian Spree aus Essen.
Macht Druck in Berlin und klagt gegen das Bundesinstitut für Arzneimittel: Sebastian Spree aus Essen. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Bundesverfassungsgericht: Sterbehilfe-Verbot ist rechtswidrig

Wenn deutsche Politiker über Sterbehilfe reden, dann meinen sie eher nicht Menschen wie ihn: Sie meinen meist Ältere mit schweren körperlichen Erkrankungen, die Schmerzen haben oder Atemnöte, die nicht mehr auszuhalten sind, Patienten, die erlöst werden wollen. Sebastian Spree aber sagt, der Richterspruch gelte für alle, „ob gesund, körperlich oder psychisch krank und ob Sie dessen Beweggründe nachvollziehen können oder nicht“. Es war Aschermittwoch, als in Karlsruhe dieses Urteil fiel: Das höchste Gericht entschied, Paragraf 217 sei verfassungswidrig. Darin hatte der Bundestag 2015 die „geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung“ untersagt und festgelegt, dass der assistierte Suizid mit einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren geahndet wird. Darauf hatten sich Ärzte seither berufen und schwer kranken Patienten die Hilfe beim Sterben versagt.

Das Persönlichkeitsrecht, begründeten nun aber die Richter, schließe die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen. Jeder Mensch habe „das Recht, selbstbestimmt die Entscheidung zu treffen, sein Leben eigenhändig, bewusst und gewollt zu beenden und bei der Umsetzung der Selbsttötung auf die Hilfe Dritter zurückzugreifen“. Nur ahnte Sebastian Spree schon damals, dass sich trotz dieser deutlichen Worte alsbald nichts ändern würde: „Mir war fast klar, dass das nicht umgesetzt wird.“

Ärztetag streicht den entscheidenden Satz aus der Berufsordnung

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Gesetzesinitiativen hat es wohl gegeben, eine erste Debatte auch und eigentlich das Versprechen, ein neues Gesetz noch vor der Wahl auf den Weg zu bringen. Doch danach sieht es nicht mehr aus. Das Einzige, was kürzlich passiert ist: Die Ärzte selbst haben sich bewegt. Der 124. Deutsche Ärztetag beschloss im Mai, die Berufsordnung zu ändern, und strich den Satz „Der Arzt darf keine Hilfe zur Selbsttötung leisten“. Allerdings betonte das Gremium auch, die Mitwirkung von Medizinern sei „keine ärztliche Aufgabe“ und unterliege allein dem Gewissen.

„Es gibt in der deutschen Sprache kein Wort, das das Ausmaß meiner Wut beschreiben könnte“, sagt Sebastian Spree. Die Politik nehme „unzählige Höllenqualen“ in Kauf, verwehre Sterbewilligen die ersehnte Erlösung. „Wie lange will der Bundestag das Urteil noch missachten?“ Der 38-Jährige sieht die Sache so: „Die höchstrichterliche Entscheidung wird nicht umgesetzt, weil sie der Politik nicht passt.“ Dabei gehen in Deutschland jährlich 10- bis 12.000 Menschen freiwillig in den Tod, eine sechsfache Zahl versucht es. Die hätten, ist Spree überzeugt, „gern in Würde sterben wollen“. Und er will das ja auch. Er könnte von einer Brücke springen oder vor einen Zug, „eine schöne Vorstellung ist das nicht“. Er möchte in Würde gehen, vielleicht begleitet. „Ich finde, darauf habe ich einen Anspruch.“

Sterbehilfe „müsste Wahlkampfthema Nr. 1 sein“

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Beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte in Bonn hat er deshalb im Mai 2020 eine „Erwerbserlaubnis für Natrium-Pentobarbital zum Zweck der Selbsttötung“ beantragt. Die Behörde lehnte ab: Das Ansinnen sei nicht vereinbar mit dem Zweck des Instituts, die „notwendige medizinische Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen“. Die beinhalte „die Heilung von Krankheiten oder die Linderung von belastenden Symptomen, nicht jedoch den Erwerb von Betäubungsmitteln zum Zweck der gezielten Beendigung des Lebens“. Im November reichte der Essener daraufhin Klage ein.

Seine Petition auf www.change.org blieb bislang fast unbeachtet. Er schrieb aber auch an die Fraktionen im Bundestag, an jeden einzelnen Abgeordneten, Überschrift: „Ich klage an.“ Er findet: „Die Sterbehilfe müsste Wahlkampf-Thema Nummer 1 sein.“ Antworten kamen wenige, noch weniger versprachen Hilfe. Und wenn, dann unter Bedingungen: etwa, dass Betroffene nachweislich „austherapiert“ sein müssten. Neuregelungen aber, die für die Sterbehilfe höhere Hürden aufstellen als das Verfassungsgericht, lehnt Spree ab. Das beschränkte sich auf den freien Willen, den Ausschluss unzulässiger Einflussnahme Dritter und die Dauerhaftigkeit des Sterbewunsches.

Sebastian Spree findet die Rechtslage in Deutschland „absurd: Ich darf ein Haus kaufen, ein Auto, ich darf heiraten, ich darf alles – aber nicht entscheiden, dass ich sterben will.“ Dabei hat der 38-Jährige schon so lange „das Gefühl, eigentlich nicht lebendig zu sein. Dass der äußere Tod nur den inneren vollenden würde“. Er wird durch die Instanzen gehen, aber eigentlich hat er keine Zeit. Spree fühlt sich „total hilflos“. „Es gibt keinen Menschen, der mehr allein gelassen wird als der, der sterben will.“

>>HELMUT FELDMANN AUS MARL BEGRÜSST BEWEGUNG DER ÄRZTE

Helmut Feldmann aus Marl war einer der Kläger, die nach jahrelangem Streit vor dem Bundesverfassungsgericht das Aus für das Sterbehilfe-Verbot erkämpften. Der 74-Jährige leidet an der Lungenkrankheit COPD und schloss sich schon vor Jahren einem Sterbehilfe-Verein ein. Der darf ihm nach dem Urteil das Mittel Natrium-Pentobarbital zukommen lassen, wenn Feldmann das wünscht.

Trotzdem stritt der frühere Dortmunder weiter: Schon im Frühsommer 2020 wandte er sich auf Bitten weiterer Betroffener mit entschlossenen Briefen an die Politik: Sie möge das Urteil endlich umsetzen. Auch an die Bundesärztekammer schrieb Feldmann, hier hatte er Erfolg: Der 124. Bundesärztetag hat das berufsrechtliche Verbot der Sterbehilfe in Paragraf 16 Satz 3 der Musterberufsordnung kürzlich gestrichen. Feldmann zeigte sich „erfreut und dankbar“. Den Menschen, die an unheilbar schweren Erkrankungen leiden, permanente Schmerzen haben und wegen schwerer gesundheitlicher Schäden sterben wollen, sei damit sehr geholfen.

Trotzdem kritisiert auch Helmut Feldmann weiterhin die Entscheidung des Bundestags, eine Neuregelung der Sterbehilfegesetzes in die nächste Legislaturperiode zu verschieben. Jens Spahn (CDU), den er deshalb schon mal anzeigte, dürfe nach der Wahl „kein Gesundheitsminister mehr sein“. An die Bürger appellierte der Marler, sich mit dem Tabuthema Tod auseinanderzusetzen: Das baue Ängste ab. Das Leben sei nun mal für alle Menschen endlich.

Hilfe bei Depressionen und Suizid-Gedanken

  • Wir berichten in der Regel nicht über Suizide, um keinen Anreiz für Nachahmung zu geben – außer, Suizide erfahren durch die Umstände besondere Aufmerksamkeit.
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  • Die Stiftung Deutsche Depressionshilfe bietet im Internet einen Selbsttest, Wissen und Adressen zum Thema Depression an. Im Online-Forum können sich Betroffene und Angehörige austauschen. Für Jugendliche gibt es ein eigenes Forum.