Die Debatte um die Sterbehilfe reißt nicht ab. Soll der Mensch den Schluss der eigenen Biografie schreiben dürfen – oder das Leben selbst?
Für jemanden, dessen neuestes Werk den finsteren Titel „Sich den Tod geben“ trägt, macht Jean-Pierre Wils einen lebensfrohen Eindruck, schwärmt von Konzerten in der Essener Philharmonie und von der Nachbarschaft am Niederrhein, ist umgeben von Kunst, von Büchern und Schallplatten und zwischendurch springt auch schon mal eine Katze aus einer großen Vase. Vom Ortskern in Kranenburg sind es nur ein paar Kilometer ist zur Universität Nimwegen, wo der gebürtige Belgier lehrt. Stephan Hermsen sprach mit ihm über das Leben und sein neuestes Werk – und natürlich über den Tod.
Herr Professor Wils, warum nimmt das Thema Sterben und Sterbehilfe einen so großen Platz in Ihrer Arbeit ein?
Damals, 1990 nach der Habilitation in Tübingen, wollte ich eine Weile aus dem Elfenbeinturm der Wissenschaft heraus und habe ein Jahr als Seelsorger unter anderem in der Intensivstation der Unfallklinik gearbeitet. Da sieht man alles, was man nicht sehen will. Ethik und Sterbehilfe sind dann nicht mehr nur Theorie. Ich hatte damals eine eher konservative Einstellung zur Sterbehilfe. 1996 kam ich an die Universität nach Nimwegen und stellte fest, dass die Diskussion in den Niederlanden völlig anders lief. Ich hatte das Gefühl, es müsse auch in Deutschland etwas passieren.
1996 also Befürworter der Liberalisierung – jetzt eine kritische Einstellung zum assistierten Suizid?
Vor einem Jahr kam das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum deutschen Sterbehilfeparagrafen. Ich war sehr hellhörig, weil ich aus den Niederlanden die Diskussion kannte um das „voltooid leven“ – das vollendete Leben. „Vollendet“ bedeutet: Ich will nicht weiterleben, denn mein Leben ist nur noch eine Aufstapelung von Beschwerden. Es hat keinen Sinn mehr. Also nehme ich das Recht in Anspruch, bei der Selbsttötung geholfen zu werden. Ich erlebe aber, dass jetzt in den Niederlanden viele ehemalige Befürworter einer Liberalisierung der Sterbehilfe sagen: Der Geist ist aus der Flasche. Wir gehen zu weit.
Jetzt reicht Lebensüberdruss, um – gemäß Ihrem Buchtitel – „sich den Tod geben“ zu können.
Im Grunde ja. Und dadurch gerät diese Entscheidung völlig in das Fahrwasser der Subjektivität. Wenn man den Aktionsradius schwinden sieht, will man gar nicht mehr leben. Dahinter steht die Vorstellung der aktiven und selbstbestimmten Lebensgestaltung bis zum Schluss.
Was erwarten Sie für die weitere Entwicklung in den Niederlanden?
Ich erwarte nach den Wahlen in den Niederlanden, dass dort die Entwicklung weiter in diese Richtung gehen wird. Es gibt eine Gesetzesinitiative, über die in der neuen Legislativperiode mit an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit abgestimmt wird. Das subjektive Urteil der Person sei zu respektieren und die Assistenz beim Suizid müsse nicht mehr zwingend aus der medizinischen Ecke kommen. Medizinische Kriterien spielen keine Rolle mehr. Es ist sogar geplant, einen Aufbaustudiengang „Lebensendebegleiter“ zu etablieren.
Es gibt quasi das akademisch ausgebildete Gegenstück zur Hebamme, also zur Geburtshelferin, nämlich den Beruf des Sterbehelfers?
Auch interessant
Die Suizidhilfe wird akademisiert . Damit bekommt sie eine seltsame Aura der Objektivität. Eigentlich schlägt das Bundesverfassungsgericht in die gleiche Kerbe. Es war richtig, den Paragrafen 217 zu kippen, aber ich finde die Begründung problematisch, so als gebe es nur eine Instanz, der die Entscheidung über das Lebensende zustehe – die Person selbst. Es gehöre zum Persönlichkeitsrecht und ihrer Würde, diese Entscheidung zu fällen und man habe den Anspruch darauf, Hilfe zu erhalten. Es dürfen keine „materiellen Kriterien“, beispielsweise das Vorliegen einer schweren Erkrankung am Lebensende, angewandt werden. Autonomie wird als Mantra wiederholt, so als gäbe es keine Gesellschaft, keinen Sozialverbund – nur den Einzelnen.
Aus dem Blick gerät, dass kein Mensch für sich selbst lebt?
Es gibt in den Bestimmungen, was aussichtsloses Leiden ist, keine medizinischen Kriterien mehr. Bislang ging man davon aus, dass die Sterbehilfe und somit auch der assistierte Suizid in einem Zeitraum geschehen, der nur Tage oder Wochen, vielleicht maximal wenige Monate vor dem vermutlichen natürlichen Todeszeitpunkt liegt. Doch in den letzten Jahren steigen die Zahlen der aktiven Sterbehilfe und der Suizidbeihilfe in den Niederlanden, in Belgien und der Schweiz stetig an. Es entwickelt sich vor allem so etwas wie eine Prominenz des Suizids, er wird immer mehr um Hauptthema in den Debatten, übrigens auch in der Literatur. Deswegen habe ich auch drei Romane in meinem Buch behandelt.
Da war das Stück „Gott“ von Schirachs noch gar nicht dabei…
Wir leben immer mehr in einer suizid-faszinierten Gesellschaft. Suizid gilt plötzlich als Wahrnehmung eines Rechts – da entsteht eine neue Mentalität. Wir kennen den kulturellen Druck seit dem Werther-Effekt bei Goethe. Die Diskussionen in den Medien formen doch auch unser Leben. In der Schweiz machen „Dignitas“ und „Exit“ Plakatwerbung für ihre Angebote. Tina Turner gehört dort zu den bekannten Persönlichkeiten, die auf die Möglichkeit des assistierten Suizids aufmerksam machen.
Suizidversicherung als Gegenstück zur Lebensversicherung?
Es entsteht eine Diskussion etwa in Richtung: Leiden muss eigentlich nicht sein, also bereite dich doch bitte darauf vor, dich rechtzeitig zu verabschieden. Da wird dann noch über eine Altersgrenze debattiert, meist zieht man den Strich bei 75 Jahren. Aber diese Grenzziehung ist natürlich konventionell.
Vielleicht könnte man analog zur Covid-Impfung Leidenspunkte sammeln. Bei einer bestimmten Anzahl ist der Suizid erlaubt…
Es wird der Punkt kommen, wo jemand sagt: Warum erst Suizid ab 75? Und nicht ab 55? Da entsteht eine Dynamik, die sich kaum bremsen lässt. Es verbreitet sich ein dominantes Sprachspiel, ein Narrativ um Autonomie und Selbstbestimmung. Irgendwann wird eine Atmosphäre entstehen, in der man sich dafür rechtfertigen muss, warum man überhaupt weiterleben will. Dies dem Zufall zu überlassen, wird dann problematisch.
Es verändert das Lebensgefühl gewaltig, wenn ich auf dem Nachttisch immer eine Pille liegen habe, die mein Leben beendet.
Wir glauben, mehr Optionen bedeutet: mehr Freiheit. Aber darüber muss man erst einmal nachdenken. Was tut man sich an, wenn man ständig den Tod in Reichweite hat? Das ist gruselig. Aber dies wird als Triumph der Aufklärung und Selbstbestimmung gefeiert.
Und als Trend hin zur Optimierung – bis hin zum Ende der Ich-AG, wenn diese keine Dividende mehr abwirft.
Wir investieren immer mehr in Optimierungsideologien. Es wird auf die eigene Biografie geschaut als eine Aneinanderreihung von positiven Ereignissen und Erfahrungen, von selbstbestimmten Entscheidungen. Doch diese Bilanz der Biografie scheint irgendwann erschöpft zu sein. Nur die Biologie ist leider noch da. Der Körper lebt über die Geschichte der Person, die als Erfolgsgeschichte gedacht wird, hinaus. Es stimmt schon, Menschen sollen nicht auf eine Weise sterben, die in einem Widerspruch zu ihrem Leben steht. Formen der aktiven Sterbehilfe und der Suizidhilfe sind meines Erachtens zulässig, aber es muss dafür objektivierbare Kriterien geben.
Haben Sie sich mit der Frage befasst: Wie möchte ich selbst sterben?
Ja. Ich habe persönlich eher eine konservative Einstellung. Vielleicht gibt es da eine Phase, in der man erkennt, dass man etwas nicht bis zu Ende verfügen muss. Aber diese Kunst des sich Ergebens, die haben wir verlernt. Menschen wollen sogar ihre eigene Beerdigung inszenieren. Es soll das Individuum gefeiert werden. Sie ist immer weniger für die Hinterbliebenen da. Nein, da habe ich nichts geplant.
Der Gedanke, der Autor seiner eigenen Biografie zu sein oder sein zu müssen, findet sich bei Ihnen mehrfach. Können Sie sich Ihr Leben vorstellen, ohne schreiben zu können?
Ja, doch. Ich denke manchmal in Tagträumen daran zurück, wie ich als Kind eine schöne Voliere und ein Aquarium hatte. Manchmal denke ich, irgendwann hätte ich das gerne wieder, dass ich nur noch den Fischen und Vögeln zusehe.
>>>Jean-Pierre Wils: Von Flandern über Schwaben an den Niederrhein
Als zwei Wochen nach seinem Einzug 1996 ins ehemalige Beuys-Archiv in Kranenburg die erste Einladung zur Silberhochzeit in der Nachbarschaft im Briefkasten lag, wusste Jean-Pierre Wils: Die Menschen hier, sie sind schon ein wenig offener und direkter als in Tübingen. Dort und im belgischen Leuwen hatte der 1957 in Geel (Belgien) geborene Theologe und Philosoph studiert und war Professor geworden.
An der katholischen Universität Nimwegen lehrt er seitdem theologische Ethik und ist Professor für die „Kulturtheorie der Moral“. Aus Protest gegen den anti-modernen Geist und die Wiederaufnahme der Pius-Bruderschaft trat er 2009 aus der kath. Kirche aus.
„Sich den Tod geben“ – Suizid als letzte Emanzipation?, ist im Hirzel-Verlag erschienen, 208 Seiten, 21,90 Euro