Duisburg. Im Lebenslauf des Duisburger Serienmörders Joachim Kroll gibt es blinde Flecken: Hat der Triebtäter auch in der DDR Kinder und Frauen umgebracht?
„Menschenfresser von Duisburg“. „Ruhr-Kannibale“. „Bestie“. Am 4. Juli vor 45 Jahren wurde Joachim Kroll verhaftet. 1982 wurde er zur lebenslangen Haft verurteilt. Am 1. Juli vor 30 Jahren starb der Massenmörder in der Strafvollzugsanstalt Rheinbach. Herzinfarkt. Der Mann, der Familien am Niederrhein, im Münsterland und im Ruhrgebiet in Angst, Schock und Trauer versetzte und für den Boulevardzeitungen immer neue Begriffe fanden, hatte laut Urteil acht Morde auf dem Gewissen und einen Mordversuch. Der Duisburger Kripo gestand er elf Tötungen und Tötungsversuche – und deutete gegenüber Kripo-Vernehmern und seinem Anwalt Dietrich Lazarz 20 bis 30 Taten an.
Blinder Fleck in der Vita des Täters
Trotz Geständnis, Urteil und Tod in der Haftzelle 1991: Der Fall Kroll bleibt bis heute über weite Strecken rätselhaft. Kann die immense Zahl an Ermordeten, die er selbst genannt hat, überhaupt stimmen? Wo waren die möglichen anderen Tatorte? Wer waren die möglichen unbekannten Opfer? Mehr Klarheit über eine der spektakulärsten deutschen Kriminalfälle könnte eine bisher kaum beachtete Nebenspur im Leben des Serienkillers bringen. Sie führt weit weg von NRW und hinein in einen über eineinhalb Jahre blinden Fleck in der Vita des Joachim Kroll. Was kaum bekannt ist: Kurz nach seinem ersten Mord im Münsterland hat er sich für viele Monate in die südliche DDR abgesetzt, ins heutige Bundesland Sachsen. Details über die Zeit sind kaum bekannt. Hat der Triebtäter auch dort getötet?
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Festnahme und Geständnisse des damals 43-Jährigen sorgten im Juli 1976 weltweit für Schlagzeilen. Nach dem Verschwinden einer Vierjährigen im Duisburger Stadtteil Laar fanden Ermittler Körperteile von Marion Ketter im Gefrierschrank der Wohnung des Waschkauenwärters und weitere, mit Bissspuren, in dessen Kochtopf. In den Tagen und Wochen darauf bekannte er sich vor Beamten der Mordkommission zu weiteren Morden: Den an Irmgard Strehl 1955 in Lüdinghausen, 1959 an Klara Frieda Tesmer in Rheinhausen und an Manuela Knodt in Essen, 1962 an Petra Giese und Monika Tafel in Dinslaken und Walsum, 1965 an Hermann Schmitz in Duisburg, 1966 an Ursula Rohling in Marl und an Ilona Harke in Hückeswagen, 1969 an Maria Hettgen in Essen und 1970 an der 13-jährigen Jutta Rahn in Hösel. 1967 entging er knapp der Festnahme. Er überfiel Gabriele, 10, in Bottrop-Kirchhellen – und floh, weil Bergleute vorbeiliefen. Gabriele überlebte.
Schlimmster Serienkiller der Nachkriegszeit
Meist waren es Kinder, junge Mädchen und Frauen, die er vor dem Mord missbraucht oder bei denen er Missbrauch versucht hatte und die er schließlich erwürgt, erdrosselt, erstochen oder ertränkt hat. Der Zeitraum der Verbrechen erstreckte sich über 21 Jahre. Kroll gilt bis heute als schlimmster deutscher Serienkiller der Nachkriegszeit.
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Der pensionierte Kriminalhauptkommissar Bernd Jägers (71) hatte ihn im Sommer 1976 als ganz junger Kriminalpolizist vernommen und unter vier Augen Details über die Taten entlockt. Jägers zeigt sich überzeugt, dass die Angaben Krolls über insgesamt 20 bis 30 Mordtaten richtig waren. „Ich glaube das bis heute“. Aber die Annahmen des Ex-Fahnders gehen noch viel weiter. Der Aktionsradius könnte sich nicht auf Nordrhein-Westfalen alleine beschränkt haben. Konkret deutet ein „Ausreißer“ in der Lebensgeschichte des Killers in den 1950er Jahren darauf hin. In diesem Zeitraum hielt sich der unscheinbare Mann nicht – wie gewohnt – nur im Umkreis des westlichen Ruhrgebiets auf, sondern östlicher, in der DDR. „Nicht abwegig anzunehmen, dass er auch dort gemordet hat“, sagt Jägers.
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Schon 1976, bei ersten Befragungen im Präsidium in Duisburg, hat Kroll auf einen längeren Aufenthalt „in der Ostzone“ hingewiesen. Der spätere Serienkiller hatte nicht lange nach dem Tod seiner Mutter und sechs Wochen nach dem ersten Mord an Irmgard Strehl seinem Bruder 300 D-Mark gestohlen. Aus Angst, der Diebstahl könne entdeckt werden, flüchtete er am 30. März 1955, wohl per Bahn, über die noch weitgehend offene damalige Demarkationslinie in die DDR. Grobe Angaben dazu bestätigt Jägers und gibt es im Urteil des Landgerichts Duisburg von 1982.
Kroll half auf einem Bauernhof bei Leipzig aus
Nur wenig ist aus den eineinhalb DDR-Jahren bekannt. Bei Leipzig heuerte er als Helfer auf einem Bauernhof an. Als ihm die Arbeit nicht mehr gefiel, bewarb er sich in einem Braunkohle-Tagebau als Rangierer. Dort kam es zu einem Unfall. Durch seine Unachtsamkeit entgleiste ein Waggon. Die DDR-Behörden warfen ihm jedoch Sabotage vor, für die er zu einer halbjährigen Haftstrafe verurteilt wurde.
Nach Absitzen der Strafe blieb er in der DDR und arbeitete in einem Schweineschlachtbetrieb, bis er die Einladung seiner Schwester zur Hochzeitsfeier bekam. Joachim Kroll brach den Ost-Aufenthalt ab und kehrte im Oktober 1956 nach Bottrop zurück. 1960 zog er dann nach Duisburg.
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Während der DDR-Zeit habe er ohne nähere persönliche Kontakte gelebt, mutmaßte die Justiz. Ein Satz mit Sprengstoff. Für seinen Vernehmer, den heute pensionierten Kriminalhauptkommissar, deutet viel darauf hin, dass der damals 22-Jährige seine sexuellen Bedürfnisse im Osten möglicherweise auf gleiche verbrecherische Weise befriedigt haben könnte wie vorher und später im Westen. Diesen Verdacht teilten damals die westdeutschen Ermittlungsbehörden. Nach der Festnahme 1976 wandten sie sich mit einer Anfrage an die DDR-Behörden. Die mauerten. Nie ist in Duisburg eine Antwort eingegangen.
„Kann mich nicht erinnern“
Ob und für welche weiteren Tötungsdelikte Joachim Kroll verantwortlich war, hat man schließlich nur für das Gebiet der alten Bundesrepublik und besonders in Nordrhein-Westfalen versucht zu klären. Die Duisburger Mordkommission mit ihrem Chef Manfred Kalitschke führte den Verdächtigen 1976 zu rund 100 Tatorten ungeklärter Morde, teilweise zu drei oder vier Stellen am Tag. Neun dieser Stellen erkannte Kroll als Tatorte wieder. Acht der insgesamt elf Fälle wurden zur Grundlage des „Lebenslang“-Urteils gegen ihn. Nicht selten aber musste er auch passen: „Kann mich nicht erinnern.“
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Das lag an seinem unterschiedlich ausgeprägten Erinnerungsvermögen, was praktisch bedeutete: Waren Tatorte, vielleicht durch eine Bebauung, verändert und stand dort ein Hochhaus statt früher eines Wäldchens, brach Krolls an sich „fotografisches Gedächtnis“, wie es Jägers nennt, zusammen. Ortsnamen und Namen und Lage der Regionen, durch die der Nicht-Autofahrer mit Bahn und Bus gereist ist und in denen er Menschen getötet haben könnte, hat er sich ohnehin nie merken können. Nur wenn ihn die Ermittler anhand von Informationen aus den Akten direkt an einen unveränderten Ort führten, konnte er überzeugend sagen: Hier war nichts. Oder eben auch: Hier war etwas.
Spekulationen führten in eine Sackgasse
Es gibt weitere Löcher im Lebenslauf des Waschaukauenwärters, die sich den Ermittlern nicht erschließen konnten. Mehrjährige „Mord-Pausen“, die jeweils von 1959 bis 1962, von 1962 bis 1965 und dann ganze sechs Jahre von 1970 bis zur Festnahme dauerten. Fühlte der Triebtäter da keinen Drang? Gerade aus den Jahrzehnten der Verbrechen Krolls sind bundesweit zahlreiche und bis heute ungeklärte Triebmorde an jungen Menschen bekannt, allein acht Anhalterinnen fielen ihnen im Münsterland und im Raum Mannheim/Heidelberg zum Opfer, nicht wenige im Raum unmittelbar südlich von Hamburg. Doch Spekulationen können auch schnell in Sackgassen enden. Das war im Zusammenhang mit Kroll so beim Tod von Karin Töpfer aus Mölln bei Dinslaken. Die 10-Jährige blieb nach ihrem Verschwinden am 8. Mai 1976 über Wochen vermisst und soll sich am 19. des Monats bei einem ihr unbekannten Telefonanschluss ihrer alten Heimat Walsum unter ihrem Namen gemeldet haben. Ihre Botschaft: Sie könne nicht zu ihrer Mutter heimkommen und befinde sich an einer vielbefahrenen Straße bei Hünxe.
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Karins Leiche wurde im Oktober zwischen Uedem und Marienbaum gefunden. Das war länger nach der Festnahme Krolls und fünf Tage nach einer „XY Ungelöst“-Sendung des ZDF, in der nach ihr gefahndet wurde. Karin war kurz zuvor vergewaltigt und erwürgt worden. Joachim Kroll stand zeitweise in Verdacht, etwas mit ihrem Tod zu tun zu haben. In einigen Internetforen wird dies heute noch gemutmaßt. Die Duisburger Mordkommission ermittelte damals auch in diesem Fall. Doch Kroll kam nicht in Frage. Zum einen besaß er weder Auto noch Führerschein und konnte wegen eines Knieleidens keine längeren Strecken zu Fuß zurücklegen. Zum zweiten: Der Zeitraum passte nicht. Vor allem: Der Laarer hätte kaum die Entführung eines jungen Menschen, die damit verbundenen Übernachtungs-, und Ernährungsfragen und Geheimhaltungen über Monate stemmen können.
Die Wahrheit bleibt verborgen
Der Rest? Ungeklärt, offen. Tests ergaben bei dem Mann einen geringen Intelligenzquotienten von 76, aber ein ausgeprägt gutes Verhältnis zu Zahlen. So werden Joachim Krolls eigene Angaben von 20 bis 30 Tötungen, die er begangen habe, bis heute durchaus ernst genommen. War er in diesen Fällen wirklich der Täter, hat er die Details 1991 mit ins Grab genommen.
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