Witten/Wattenscheid/Tripolis. Das gefährlichste Wirtschaftsverbrechen der Nachkriegsgeschichte: Wie Unternehmer „Hippi“ aus dem Revier eine Giftgas-Fabrik für Gaddafi baute.
Das Ruhrgebiet hat ein schlechtes Gewissen. Es war in den beiden verlorenen Weltkriegen die Kanonenschmiede des Reiches. Das weiß jedes Kind zwischen Duisburg und Dortmund. Dass sie aber 40 Jahre nach dem letzten Weltkriegsende mitten im Revier die Herstellung von Massenvernichtungswaffen ermöglicht haben, erfahren die Mitarbeiter der Bochumer „Gesellschaft für Automation mbH“ erst, als an einem Mittwoch des Jahres 1989 ungebetener Besuch vor dem Unternehmenstor steht. Beamte des Bundeskriminalamtes filzen die Räume. Sie nehmen den Chef gleich mit. Der Herr Doktor, harmlos „Hippi“ kosegenannt, kommt in Untersuchungshaft. Der Vorwurf: „Dringender Verdacht des Verstoßes gegen das Außenwirtschaftsgesetz“.
Die Beschuldigung wiegt schwer. Der Verdächtige hat mit seinem eigenen Firmenkonstrukt und angeheuerten Unternehmen einem der gefährlichsten Despoten der Welt eine komplette Giftgasfabrik gebaut. Die Produktionsstätte für einen Chemiemix, mit dem Libyens Diktator Muamar al Gaddafi den Nahen Osten hätte verseuchen können – und den er nach ernst zu nehmenden Aussagen von Beteiligten gezielt gegen Israel einsetzen wollte. Tarnname des Projekts: „Pharma 150“. In Bochum-Wattenscheid waren über Jahre die nötigen Mess- und Regeltechniken entstanden, in Lahr im Schwarzwald die Rohranlagen und die Öfen. Deutsche Wertarbeit gegen jüdisches Leben? Der New York Times fiel der historische Zusammenhang auf. Autor William Safire schrieb vom „Auschwitz in the Sand“.
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Schneller Aufstieg
Wer war „Hippi“? Dr. Jürgen Hippenstiel-Imhausen, geboren am 16. September 1940 in Witten an der Ruhr als Sohn des Maschinenfabrikanten Richard Hippenstiel, aufgewachsen im benachbarten Wetter, wo der Betrieb des Vaters stand. Jürgen Hippenstiel machte hier sein Abitur, studierte in Bonn Volkswirtschaft und begann 1965 im Schwarzwald in der Chemiefabrik Imhausen. Er kannte das Unternehmen. Auch die Imhausens hatten ihre Wurzeln in Wetter im Ruhrtal. So stieg Hippenstiel schnell auf, erhielt eine Prokura nach der anderen und heiratete schließlich Violetta, die Tochter des Chefs. Als der 1983 verstarb, wurde er der Boss.
Kein Jahr später steigt Jürgen Hippenstiel-Imhausen in das wohl gefährlichste Wirtschaftsverbrechen der deutschen Nachkriegsgeschichte ein. Alles muss, ergeben später staatsanwaltschaftliche Ermittlungen, im Mai oder Juni 1984 begonnen haben. Hippenstiel-Imhausen ist auf Werbetour für seinen Anlagenbau in China. Dort kommt ein Dr. Ishnan Barbouti auf ihn zu, ein Araber aus London. Man plaudert. Er kenne den Schwiegervater von früher, erzählt der Mann, schade, dass der Herr Dr. Imhausen nicht mehr lebe. Aber chemische Mehrzweckanlagen? Da habe er, Barbouti, vielleicht einen Kunden an der Hand. Könne man miteinander reden?
Tödliche Täuschung
Sie reden. „Pharma 150“ entsteht zunächst in den Köpfen, dann auf dem Reißbrett. Eine Mehrzweckanlage? Pure Täuschung. Im späteren Urteil gegen Hippenstiel-Imhausen wird es heißen: „Geliefert werden sollte eine Anlage zur ausschließlichen Herstellung chemischer Kampfstoffe, nämlich Lost, Sarin und Soman.“ Lost zerstört eingeatmet die Bronchien. Soman lähmt die Lunge. Sarin führt binnen zwei Minuten zum Atemstillstand. Sarin ist besonders tödlich. Ein anderer Diktator, Iraks Saddam Hussein, hat 1988 damit 5000 Kurden in Halabdscha vergast. Die Aun-Sekte nutzte es 1995 in Tokio für einen Anschlag auf die U-Bahn. 13 Fahrgäste kamen um.
Spätestens im August ‘84 sei Hippenstiel-Imhausen die wahre Zielsetzung klar gewesen, wird das Gericht feststellen. Und dass er wusste, dass der zentrale Standort nicht etwa Hongkong sei, wie es noch lange zur Tarnung als Lieferadresse aufrecht erhalten wurde, sondern Rabta, ein Ort in der libyschen Wüste bei Tripolis. Auch dass der eigentliche Auftraggeber der libysche Staat war und der eigentliche Einsatzzweck „die massenweise Vernichtung von Menschen“.
Eine raffinierte Verschleierungsmaschine
Unter der „Moderation“ des Witteners, so die Staatsanwälte, kommt eine raffinierte Verschleierungsmaschine in Gang. Parallel zum Libyen-Vorhaben soll auf Basis eines „Pen-Tsao-Vertrags“ in Hongkong eine Art Potjemkinsches Dorf entstehen. Eine zweite Fabrik, in der zwar 50 chemische Produkte hergestellt werden können, aber keine Kampfstoffe. 1986, vor 35 Jahren, beginnen die Lieferungen ins libysche Rabta. 32 Gebäude und Gebäudeteile, Stationen genannt, wachsen aus dem Boden, gemauert durch Bauarbeiter aus Thailand, Österreich und Polen. Es ist ein anderes Kaliber als Hongkong. Es ist das Giftgas-Arsenal.
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Die geheimen Pläne für die Giftgas-Anlage werden per Jet direkt nach Tripolis ausgeflogen, in einem Fall in 36 Schachteln als Fluggepäck. Schwere Teile gehen per Schiff über die Häfen von Antwerpen, Zeebrugge, La Spezia und Marseille. Was nach Rabta soll, trägt außen einen dicken gelben Punkt und die Bezeichnung „Pharma 150“. Am Ende folgen tonnenweise spezielle Chemikalien in Containern. 19 der insgesamt 25 verschifften Sorten sind reine Giftgas-Substanzen. Hippenstiel-Imhausen ist nicht in der Lage, das alles alleine zu stemmen. Er holt die Salzgitter AG ins Boot. Einen bundeseigenen Staatskonzern. Ausgerechnet.
Fundament für Raketenrampen?
Der Bochumer Betrieb GfA arbeitet in dieser Zeit an seinem Kernauftrag. Er soll in Rabta Gebäude 15 gestalten, die „Meßwarte“. Es ist das Leitsystem, mit dem die Giftgasproduktion gesteuert wird. Technische Entscheidungen treffen hier nach Dokumenten der Justiz die Vorgesetzten Rudolf P. und Sigurd St.. Ein Karl-Georg K. klärt kaufmännische Fragen und wickelt die Lieferungen ab. Unteraufträge erhält die Essener Firma Digi Table Thielen GmbH und Co KG, die selbst Subaufträge erteilt.
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Die Arbeiten kommen gut voran. Zwar ist Hongkong etwas eher fertig. Aber Ende 1988 steht auch die Wüstenfabrik zu 80 bis 90 Prozent. Am Rand wird eine riesige Grube ausgehoben. Ein Fundament für Gaddafis Raketenrampen?
Verrat in Moskau
Was Hippenstiel-Imhausen jedoch nicht weiß: Das illegale Geschäft geht nicht unbemerkt über die Bühne. Es gibt Mitwisser. Manche gucken aus tausenden Kilometer Entfernung zu. So wird die Bundesregierung, für die der Export einer Giftgasanlage an einen Todfeind Israels schon wegen des Holocaust tabu sein muss, sehr frühzeitig gewarnt. Im Juli 1985 erhält der Wirtschaftsreferent der bundesdeutschen Botschaft in Moskau „aus nichtöstlicher Quelle“ den Hinweis, eine Firma Imhausen, Inhaber Dr. Hippenstiel, plane in Hongkong eine Pharma-Fabrik. Tatsächliches Ziel der Lieferung sei aber Libyen, geplante Glasrohre ließen auf die Produktion von Giftgas schließen. Die undichte Stelle, so der Wissenstand, ist ein Salzgitter-Mitarbeiter.
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Die heiße Information stört die Bonner Regierung nicht. Sie legt die Warnung einfach zur Seite – genau wie rund 130 weitere Hinweise des Bundesnachrichtendienstes zu dem Komplex, die bis Ende 1988 im Bundeskanzleramt aufschlagen. Da hat Israels Mossad längst die Spur aufgenommen, die britische Botschaft am Rhein in einem Papier ihre „Besorgnis“ ausgedrückt, haben vor allem US-Spionageflugzeuge scharfe Luftbilder vom Bau in Rabta geschossen und in Bonn vorgelegt.
Genscher in der Vorwärtsverteidigung
Der Druck der Verbündeten wächst. Sie fragen sich: Warum verstehen die Deutschen nicht, was da vorgeht? Vielleicht, weil das Wirtschaftsministerium zwischen 1985 und 1989 die verdächtigen Firmen mit 20 Millionen D-Mark für „Kohleverflüssigungen“ subventionierte und damit indirekt das Libyen-Projekt? Weil man gute Öl-Beziehungen zu Gaddafis Libyen will, egal, wem man dabei in den Rücken fällt? Weil ein Staatskonzern verwickelt ist? Oder: Weil der Skandal den Kanzler Kohl, dem der US-Präsident deutlich die Meinung geigt, doch zu peinlich berührt?
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Am 1. Januar 1989 landet die New York Times ihren K.o.-Schlag. Abgedruckt ist der Safire-Text über ein Auschwitz in der Wüste. Das Kanzleramt wütet: „Bis zur Stunde hat die amerikanische Seite Beweise nicht beigebracht.“ Genscher wird der Satz zugesprochen, Amerika sollte aufhören, „in der deutschen Scheiße zu rühren“. Aber der Bericht löst endlich die nötigen Ermittlungen der Staatsanwaltschaft aus. Dass die Affäre nicht noch weitere Konsequenzen hat, ist wohl auch historisch begründet. Der Mauerfall steht bevor. Die Einheit folgt. Man hat anderes zu tun.
Die nächste giftige Spur ins Ruhrgebiet
So wird nicht viel später das schlechte Gewissen des Ruhrgebiets als Waffenschmiede ein weiteres Mal durch „Giftgas für Libyen“ herausgefordert. Sechs Jahre nach dem Skandal um Rabta erfährt die Welt von Tarhuna. Wieder baut Gaddafi eine Chemiewaffen-Fabrik, diesmal größer und unter der Erde. Mehrere Tonnen des tödlichen Stoffes sollen hier täglich produziert werden. Und wieder führt eine Spur ins Ruhrgebiet. Das ausgedehnte Tunnelnetz wird wie ein Bergbau-Vortrieb gebohrt. Die Spezialfräsen liefert die Firma „Westfalia Bekulit“ in Bochum. Doch der deutsche Staat hat gelernt. Er reagiert schnell. Das Management bekommt Besuch vom Zollkriminalamt, versichert den Fahndern aber glaubwürdig, beim Auftragsabschluss getäuscht worden zu sein. Der Nutzen wäre zivil, ein Bewässerungsnetz, hätten Abgesandte des libyschen Diktators die Auftragsnehmer angelogen. Die Staatsanwaltschaft schließt die Akte.
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Wo ist die Beute?
Jürgen Hippenstiel-Imhausen, im Ruhrgebiet im Mai 1989 festgenommen, wurde am 27. Juni 1990 in Mannheim verurteilt. Er habe Steuern auf 90 Millionen D-Mark Einnahmen aus dem Bau der Anlage hinterzogen. Dass er illegal eine Giftgasfabrik baute, wurde weniger schwer bewertet. Vor dem Urteil kam es zum „Deal“: Er gesteht, dafür darf er Milde erwarten. Er musste fünf Jahre ins Gefängnis, ein Drittel davon wurden ihm erlassen. „Hippi“ setzte sich nach der verkürzten Haft nach Südfrankreich ab. Die Beute nahm er ziemlich komplett mit. Der Versuch der Steuerfahndung, an das übrige Geld heranzukommen, scheiterte weitgehend. Selbst Konten in der Schweiz waren leergeräumt.
Letztes Kapitel erst 2018
Hippenstiel-Imhausens „Gesellschaft für Automation mbH“ in 44866 Bochum wurde 2006 aus dem Handelsregister gelöscht, die DigiTable Thielen GmbH in Essen schon im Jahr 2000. Gleichnamige Firmen sind heute in anderem Besitz und fertigen andere Dinge. Muamar al Gaddafi hat Israel nie mit chemischen Waffen angegriffen. 2011 endete seine lange Herrschaft, als er im Arabischen Frühling Gegnern in die Hände fiel und brutal getötet wurde. Ein Schiff transportierte die in Rabta produzierten Chemikalien nach Deutschland zurück. Das Gift landete in Nordrhein-Westfalen, wo es 2018 im Münsterland in einer Spezialanlage entsorgt wurde. Nach Steuerhinterziehung und mutmaßlichem Subventionsbetrug hat der deutsche Steuerzahler für das Finale mit 660 000 Euro ein letztes Mal in die Tasche greifen müssen.
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