Essen. Alter. Körpergröße. Was kleinste Partikelchen über unbekannte Täter verraten. Ein Experte aus dem NRW-Landeskriminalamt klärt auf
In Mülheim lebt ein Familienvater mit einer künstlichen Schädeldecke – und all den schlimmen Schmerzen und Folgen, die ein brutaler Axthieb in den Kopf verursacht. Der 40-Jährige ist 2017 Opfer eines schweren Verbrechens geworden. Er hat das überlebt. Der Täter, der ihm die Verletzung zugefügt hat, ist ein junger Einbrecher, den der Mülheimer in seinem Haus auf frischer Tat ertappt hatte. Für den versuchten Mord wurde der Rumäne Ende 2019 zu acht Jahren Jugendstrafe verurteilt.
Dass der Mann überführt werden konnte, ist vor allem dem großen, genialen Fortschritt der Kriminaltechnik der letzten Jahrzehnte zu verdanken – der Sicherstellung und Auswertung von Desoxyribonukleinsäure (DNA) in Tatort-Spuren. Die DNA ist der Baustein des Lebens. Bei jedem Menschen ist sie anders zusammengesetzt. So können winzige Reste von Blut und Sperma, Haut und Haaren auf die Fährte von Straftätern führen, wenn sie bereits anderswo auffällig wurden.
Mit der DNA körperliche Merkmale entschlüsseln
Dr. Dirk Porstendörfer ist Sachverständiger für forensische DNA-Analytik. Sein Arbeitsplatz ist das Landeskriminalamt (LKA) in der Völklinger Straße in Düsseldorf. Der 52-jährige Diplom-Biologe erinnert sich: „Mein ältester Fall, in dem wir erfolgreich waren, war von 1979. Der Mörder der 18-jährigen Bruni Entz aus Hagen konnte gefasst werden. Er sitzt seit 33 Jahren im Gefängnis“. Geringfügige Ejakulatanhaftungen an der Kleidung haben in diesem Fall Jahre später zum Täter geführt.
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Doch Porstendörfer ist sicher: DNA-Analytik kann viel mehr. Seit einem Jahr schon wird mit ihrer Hilfe die Farbe von Haut, Haar und Augen möglicher Tatbeteiligter ermittelt. Und die an Tatorten sichergestellten „genetischen Fingerabdrücke“ sowie Fortschritte in der Molekularbiologie könnten weitere körperliche Merkmale unbekannter möglicher Täter entschlüsseln, glaubt er: Angaben über ein Lebensalter jenseits der 60, auch die Körpergröße. Was geht heute mit der DNA-Analyse, was wird morgen gehen? Im Gespräch antwortet Dirk Porstendörfer auf solche Fragen.
Der Gesetzgeber hat die Rechte der Ermittlungsbehörden bei der Nutzung einer DNA-Spur erweitert. Bisher war neben der Feststellung des weitgehend einzigartigen genetischen Codes eines Menschen nur die seines Geschlechts erlaubt. Was dürfen Sie heute – und was nicht?
Dirk Porstendörfer: Wir dürfen im Rahmen von Reihenuntersuchungen Verwandtschaftsmerkmale feststellen und seit Beginn des Jahres 2020 Untersuchungen auf bestimmte phänotypische Merkmale hin ausführen, die mit der Pigmentierung zusammenhängen. Konkret sind das Augenfarbe, Haarfarbe und Hautfarbe. Den Ermittlungsbehörden können wir also Hinweise geben wie: Diese Person hat mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit, etwa 80 bis 95 Prozent, blaue Augen, eine rosa Gesichtsfarbe und braune Haare. Das klingt, was die Wahrscheinlichkeit angeht, hoch. Aber bedenken Sie, bei 80 Prozent bedeutet das, dass jede fünfte Vorhersage falsch ist. Also gilt auch hier: Vorsicht! Eine erweiterte DNA-Analyse ist nicht anders zu bewerten als die Aussagen eines Zeugen.
Können Sie das Alter des Menschen einschätzen, der eine Spur hinterlassen hat?
Auch diese Einschätzung dürfen wir heute machen. Aber das geht technisch nur, wenn wir über eine ausreichend große und saubere Blutspur verfügen. In der Altersgruppe von 20 bis 60 Jahren ergibt sich eine Genauigkeit von plus minus fünf Jahren. In absehbarer Zeit wird dies auch mit Speichelspuren funktionieren.
Dürfen Sie untersuchen, welche Herkunft derjenige hat, der eine Spur hinterließ?
Das ist in den Bundesländern rechtlich unterschiedlich geregelt. In Nordrhein-Westfalen geht das nicht. In Bayern sind nach dem dortigen Polizeigesetz solche Angaben möglich, aber nur, wenn sie der Abwehr einer Gefahr dienen.
Wie eng lässt sich mit der DNA-Probe überhaupt eine Herkunft eingrenzen?
Zur Bestimmung der biogeographischen Herkunft untersuchen wir DNA-Marker, die sich in der frühen Vergangenheit bei den verschiedenen Populationen regional unterschiedlich entwickelt haben. Dies war möglich, weil die Menschen ortstreu waren und sich Populationen wenig miteinander vermischt haben. Bei den Menschen der Neuzeit ist das anders, Menschen sind mobiler, Populationen vermischen sich. Sie können heute einen Mitteleuropäer vor sich stehen haben, dem sie seine afrikanische DNA nicht ansehen und der sich darüber auch gar nicht bewusst ist. Wenn wir heute also diese DNA-Marker untersuchen, können wir streng genommen nur Aussagen über die geographische Herkunft der frühen Vorfahren eines Spurenverursachers machen. Eine Aussage über die Herkunft der heute lebenden Person ist folglich sehr unscharf und immer mit Vorsicht zu bewerten.
Aber grobe Aussagen dazu sind machbar?
Allgemein kann man sagen: Je größer die vorherzusagende Herkunftsregion ist, desto sicherer ist eine Einschätzung. Ob jemand aus Afrika, Europa oder dem Fernen Osten stammt, ist also relativ sicher festzustellen. Je konkreter, sprich kleiner die Herkunftsregion einzugrenzen ist, desto schwieriger bzw. ungenauer wird die Vorhersage. Aufgrund genetischer Unterschiede zu sagen, ob jemand aus Kroatien oder aus Mitteleuropa kommt, ist folglich schon schwieriger, eine konkrete Vorhersage zur Herkunft aus bestimmten Regionen innerhalb Deutschlands ist nahezu unmöglich.
Ist es möglich, aus DNA ein Gesicht zu rekonstruieren und zur Fahndung nutzen?
Das ist rechtlich untersagt. Aber auch wenn wir es dürften, wäre es technisch nicht möglich. Das wird wohl noch sehr lange nicht realisierbar sein. Die DNA-Spur kann also die Arbeit des Phantom-Zeichners, der ein Gesicht nach den Angaben eines Zeugen darstellen muss, vorerst nicht ersetzen.
Ist eine Hautschuppe weniger brauchbar als ein Blutflecken oder Sperma?
Es gibt diese Unterschiede. Eine Blutschuppe ist wesentlich aussagekräftiger als eine bloße Haut- oder Haarschuppe. Schon alleine deswegen, weil sie wahrscheinlich direkt im Zusammenhang mit der Tat beispielsweise durch eine Verletzung entstanden ist. Ein Haar kann zu einem ganz anderen Zeitpunkt dorthin gelangt sein. Aussagekräftig ist auch Sperma. Niemand verliert Sperma mal irgendwie so. Sperma hat immer etwas mit einer sexuellen Handlung und damit wahrscheinlich auch mit der Tat zu tun. Deswegen werden Blut und Sperma vor Gericht als Beweise ganz anders bewertet als eine Schuppe. Allerdings kommt es immer auf die Umstände am Tatort an. Wenn ein Haar in einem Badezimmer gefunden wird, in dem die Person, zu der das Haar gehört, nichts zu suchen hat, so kann auch dieser Fund bedeutend sein.
Sie haben in NRW vier bis fünf DNA-Reihenuntersuchungen durchgeführt. Tausende von Menschen wurden überprüft. Wo liegen in einem Kriminalfall die Schwellen, jenseits der Sie bei der Justiz eine Reihenuntersuchung beantragen?
Eine Reihenuntersuchung ist wirklich eine aufwändige und kostenintensive Sache. Die Entscheidung darüber steht und fällt mit der Qualität der Spuren, die gesichert wurden, mit der Bedeutung der Spuren für die Täter-Ermittlung und mit den Arbeitshypothesen, die vermuten lassen, dass eine Reihenuntersuchung überhaupt in den Bereich der möglichen Täter führen könnte. Die Entscheidung selbst liegt nicht bei uns als Untersuchungsstelle, sondern bei den Staatsanwaltschaften beziehungsweise den Gerichten.
Hängt der Erfolg einer Reihenuntersuchung auch davon ab, ob sie in einer Großstadt oder auf dem Land erfolgt?
Im Fall der 1996 im Rheinland getöteten Claudia Ruf, wo wir bis zu 1700 Spuren untersucht haben, ist die Gegend um den Wohnort des Mädchens, der Ort Hemmerden, relativ klein. In kleinräumigen Regionen ist ein Erfolg eher wahrscheinlich. Stellen Sie sich vor, wir müssten das in einer Millionenstadt wie Köln machen. Das ist schwieriger. Ob eine Reihenuntersuchung am Ende tatsächlich zum Täter führt, ist unabhängig von der Größe der Region kaum vorherzusagen.
Wie teuer ist ein Massentest?
Das ist schwer zu kalkulieren. Wir gehen derzeit allein für die Analyse-Chemie und Analytik von Kosten in Höhe zwischen 25 und 30 Euro pro Probe aus. Da kommen noch durchaus hohe Personalkosten hinzu.
Es hat spektakuläre Fehlschläge gegeben wie im Fall von Michele Kiesewetter, der 2007 von rechtsextremen Terroristen ermordeten Polizistin. Die Ermittlungen sind wegen einer Kontamination bei der Herstellung der Wattebäusche über Jahre in die falsche Richtung gegangen. Wie sicher sind DNA-Untersuchungen generell?
Viele Laien halten die zunehmende Sensitivität der DNA-Analytik für einen Segen. Ich sehe das als DNA-Analytiker etwas kritischer. Wir sind Menschen und arbeiten mit Material von Menschen. Deswegen ist bei uns die Sensibilität für mögliche Kontaminationsgefahren über Jahre gewachsen. Natürlich kann die Gefahr einer Verunreinigung einer DNA-Spur, der Kontamination, sehr hoch sein. Minimalste Spuren, die wir finden, können zu einer Fehlinterpretation führen. Das ist eben anders als beim Fingerabdruck, wo es einen einzigen, direkten Kontakt gibt. Nichts weiter.
Wie sorgen Sie für mehr Sicherheit?
Wir haben unsere gesamte Labor-Routine umgestellt, um so gut wie möglich eine Verunreinigung auszuschließen. Die Verfahrensweisen bei der Untersuchung sind bis ins letzte Detail vorgeschrieben. Das geht im Labor ziemlich gut. Bei der Spurensicherung am Tatort kann es auch mal anders laufen. Spurensicherer haben eine sehr anspruchsvolle Arbeit. Wenn Sie einen Tag lang in einem Spurensicherungsanzug gesteckt haben, wissen sie abends wirklich, was sie getan haben. Deshalb müssen wir immer wieder prüfen und hinterfragen: Ist das Ergebnis plausibel? Oder kann es doch eine Verunreinigung gegeben haben? Eine Phantom-Spur wie im Fall Kiesewetter ist heute weitgehend ausgeschlossen, weil wir damals Konsequenzen gezogen haben. Es ist heute vorgeschrieben, Laborgeräte durch Begasung DNA-frei zu machen.
Welche Erwartungen setzen Sie in die weitere wissenschaftliche Entwicklung, um bei der Nutzung des genetischen Fingerabdrucks voranzukommen?
Bei der Identifizierung des individuellen Codes einer Person sind wir heute schon sehr gut. Ich sehe da keinen weiteren Steigerungsbedarf. Bei den phänotypischen Merkmalen, also denen, die eine Person beschreiben, gibt es Spielraum. Es wird, wie gesagt, noch lange Zeit brauchen, bis wir eine Gesichtsform aus einer DNA erkennen können. Was nach meiner Ansicht nicht mehr so lange dauern wird: Die Feststellung des Alters gerade bei älteren Menschen. Wir werden in nicht allzu langer Zeit zum Beispiel erkennen können, ob der Mensch, der die Spur hinterlassen hat, altersgerecht graue Haare hat. Die Molekularbiologie könnte es überdies bald schaffen, Körpergrößen einzuschätzen. Das wäre ein weiterer gewaltiger Fortschritt.
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